Ich habe nicht gewusst, dass mein Großvater Nazi war

In Familienaufstellungen kommen häufig auch verborgene Nazi-Vergangenheiten der Vorfahren zutage. Die Therapeutin Kitty Karner-Lauber hat sich auf die Aufarbeitung von solchen Schuldkomplexen spezialisiert.
Von Katja Sindemann

Ein heller Seminarraum, in dem ein Dutzend Menschen sitzen: ein älteres Ehepaar, mehrere junge Frauen, ein Vater mit seinem Sohn, einige Studenten. Die Seminarleiterin Kitty Karner-Lauber bittet Peter Müller* zu erzählen, warum er hier ist. Er berichtet, dass er mit seinen Brüdern im Streit läge, der Kontakt abgebrochen sei. In seiner Jugend hatte er Konflikte mit seinem autoritären Vater. Karner-Lauber schlägt vor, sein Familiensystem aufzustellen, also räumlich mit Hilfe von Protagonisten darzustellen. Peter ersucht andere Teilnehmer, seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder zu repräsentieren und weist jedem einen Platz im Raum zu. Auch der Abstand zu und die Haltung gegenüber den anderen Angehörigen werden von ihm vorgegeben. Schließlich wählt Peter einen Vertreter für sich selbst. Dieser steht der Familie in Distanz gegenüber und strahlt deutlich Unwohlsein aus. Die anderen Familienmitglieder wirken kalt, unbeteiligt, einige starren in die Ferne. Nun bittet Karner-Lauber jeden Protagonisten zu beschreiben, wie er sich fühle. Ergebnis: Keiner fühlt sich wohl. Die Person, die Peter darstellt, fühlt sich angeklagt, schuldig.

Die Familienaufstellung ist eine Methode, die von dem deutschen Psychotherapeuten Bert Hellinger propagiert wurde und zahlreiche Anhänger, aber auch Gegner gefunden hat. Die Stellvertreter erfahren in ihrer Rolle Gefühlsregungen und körperliche Reaktionen. Sie geben Auskünfte über die vertretene Person und deren Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern. Angaben, die sie eigentlich nicht wissen können, da sie den Dargestellten nicht kennen und nichts über ihn gehört haben. Das überrascht und gibt Anlass zu Spekulation. Dennoch bestätigen Klienten, dass die Aussagen mit den realen Personen übereinstimmen. Oft kommen bislang verborgene Informationen zutage.

Karner-Lauber bittet die Darsteller, langsam Veränderungen an ihren Positionen durchzuführen. Sie weist Peter an, auch die Eltern des Vaters ins Bild zu holen. Der Großvater ist eine dominante Figur, die Großmutter deutlich untergeordnet. Peters Vater wandert sukzessive zum Großvater hin, hier fühlt er sich zugehörig. „Wo war dein Großvater im Zweiten Weltkrieg?“, fragt die Therapeutin. „Er hat bei der Eisenbahn gearbeitet.“ „Warum wurde er nicht eingezogen?“ Die Frage überrascht Peter. „Er muss eine Funktion gehabt haben“, mutmaßt Karner-Lauber. Der junge Mann ist perplex: „Darüber wurde in der Familie nie gesprochen.“ Alle deportierten Juden wurden mit Zügen in die KZs gebracht. Reichsbahnmitarbeiter wussten davon. War Peters Großvater an Deportationen beteiligt? Die Leiterin fordert einige Teilnehmer auf, sich als potenzielle Nazi-Opfer vor den Großvater auf den Boden zu legen. Dieser grinst überlegen: „Du kannst da noch Tausende hinlegen, es macht mir nichts aus!“ „In Familienaufstellungen wird das Schweigen, das in Täterfamilien herrscht, sichtbar“, so Karner-Lauber. „Es wird nicht darüber gesprochen, was die Väter, Großväter im Krieg gemacht haben. Viele haben Schuld auf sich geladen, weil sie sich an Arisierungen bereichert, jemanden verraten oder Unschuldige getötet haben. Wenn die Täter ihre Schuld nicht eingestehen, übernimmt sie ein Nachkomme im Familiensystem stellvertretend. Oft können bei Kindern oder Enkeln Symptome wie Krankheiten, Unfälle, Depressionen, Psychosen auftreten. Das sind Hinweise auf uneingestandene Schuld, die weiterwirkt.“ Die Therapeutin erlebt immer wieder, dass Klienten überrascht entdecken, dass sie aus einer Täterfamilie stammen.Dies deckt sich mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Die Zeithistorikerin Margit Reiter beschreibt in ihrer Habilitation „Generation und Gedächtnis: Tradierung und Verarbeitung des Nationalsozialismus bei den ,Kindern der Täter‘ in Österreich“, dass Familienerzählungen erst nach Kriegsende einsetzen und ausschließlich das erlebte Leid nach 1945 thematisieren, d.h. die Eltern sich in der Opferrolle sehen. Der Zusammenhang mit der Zeit davor wird ausgeblendet. Gefallene Männer werden oft in einem Heldenmythos verklärt. Die Kinder wissen nichts über die reale Involvierung ihrer Väter, deren Beteiligung wird verharmlost.

Karner-Lauber ist Jüdin und hat zahlreiche Verwandte in der Shoah verloren. In ihrer eigenen Psychoanalyse hat sie das unaufgearbeitete Trauma ihrer Eltern beleuchtet. Die Lehrerin wurde Psychotherapeutin und absolvierte Ausbildungen in Körper- und Familientherapie. Von Bert Hellinger distanziert sie sich heute. So kritisiert sie, dass er Täter und Opfer nebeneinander lege. Das hält sie für eine Retraumatisierung der Opfer. Die Familienaufstellung als Methode zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte hat sich für sie jedoch bewährt. In Peters Aufstellung bittet die Psychotherapeutin einen Teilnehmer, als Symbol für die NS-Ideologie ins System zu treten. Die Reaktion verblüfft alle: Peters Großvater nimmt sofort militärisch Haltung an, streckt den Arm zum Hitlergruß aus, strahlt „den Führer“ unverhohlen an. Peter ist sehr betroffen. „Mein Mann und ich haben in Österreich eine Gruppe geleitet, in der Nachkommen aus Opfer- und Täterfamilien zusammen kamen, um sich besser zu verstehen. Vorbild war der israelische Psychologe Dan Bar-On, der dies in Deutschland erstmals getan hat“, erzählt Karner-Lauber. Bar-On (1938–2008) interviewte Ende der Achtzigerjahre 50 Nachfahren von Tätern, darunter Martin Bormann junior, den Neffen von Reinhard Heydrich, den Sohn des Treblinka-Leiters Irmfried Eberl etc. Er erfuhr, dass viele Nazis gegenüber ihrer Familie das Bild eines normalen, psychisch gesunden Menschen gezeigt hatten. Für die Kinder war es ein schmerzhafter Prozess, die Ambivalenz zwischen dem geliebten Vater und seiner Rolle im NS-Regime zu verarbeiten. Es herrschte großes Schweigen, verstärkt durch die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Bar-On sprach von einer „doppelten Mauer“: jene, die die Eltern um ihre Gefühle errichtet hatten, und jene der Kinder als schützende Reaktion.

In Peters Aufstellung wird deutlich, dass sein Großvater die Schuld für seine Taten nicht auf sich nimmt. Sein Vater hat sich nie vom Großvater distanziert, sondern ist in der Rolle des anhänglichen Kindes verblieben. Peter ist der Erste, der auf das Verschwiegene aufmerksam macht. Dadurch entstehen die Konflikte mit seinen Brüdern. In der Aufstellung findet eine Versöhnung mit den Brüdern und dem Vater statt. Dieser trägt erkennbar an innerem Ballast. Dan Bar-On forschte auch über die Dritte Generation. 1.100 Jugendliche aus Deutschland und Israel wurden nach ihrem Verständnis der Shoah sowie ihren Einstellungen zu aktuellen Problemen befragt. Das Ergebnis: Deutsche Jugendlichen wissen weniger über die Shoah, weniger über die Rolle ihrer Großeltern als ihre israelischen Altersgenossen und zeigen geringere emotionale Reaktionen auf das Thema.

Peter beginnt zu recherchieren und erfährt, wie die Reichsbahn an den Judendeportationen beteiligt war. Jeder Sonderzug wurde vom Reichssicherheitshauptamt bestellt und abgerechnet. Sein Großvater hat die Deportationen möglicherweise eingeteilt, vielleicht sogar begleitet. Und: In der Stadt, in der seine Großeltern lebten, fand Februar 1940 die erste Deportation einer jüdischen Gemeinde im Deutschen Reich statt. Über 1.100 Juden wurden in Waggons nach Lublin gebracht, etliche starben auf der Fahrt an Kälte und Hunger, die Mehrzahl wurde 1942 liquidiert, 19 überlebten. Karner-Lauber erlebt immer wieder die heilende Kraft, die entstehen kann, wenn Teilnehmer die Taten ihrer Eltern oder Großeltern aufdecken. „Wichtig ist, dass die Opfer gesehen werden. Und dass Personen der zweiten oder dritten Generation die Schuld, die sie stellvertretend übernommen haben, an den Täter zurückgeben.“ Ein halbes Jahr später erzählt Peter, dass sein Vater ihn gebeten habe, ihm seine Vorwürfe mitzuteilen. Erstmals ist der Vater bereit, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Für Peter der erste Schritt in einer neuen Richtung.

*Name und Fallgeschichte des Klienten geändert und mit dessen Einverständnis publiziert.

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