Im Sommer 1945 fand im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts für Strafsachen in Wien der Engerau-Prozess, der erste Prozess wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen statt. Angeklagt waren vier ehemalige SA-Männer.
VON RUDOLF LEO
Erster Volksgerichtsprozess im Wiener Landesgericht gegen Kriegsverbrecher. Die Angeklagten auf der Bank v.l.: Polikovsky, Kronberger, Neunteufel, Frank
Am 15. Mai 1945, nur wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erscheint der damals 40-jährige Fleischhauer und Selcher Rudolf Kronberger aus eigenem Antrieb bei der Staatspolizei in Wien, um eine Zeugenaussage zu machen. Diese Aussage wird den ersten und größten Prozesskomplex gegen NS-Täter in der Nachkriegsgeschichte auslösen. Kronberger ist, heute würde man sagen, „situationselastisch“. Im Austrofaschismus denunziert er illegale Nationalsozialisten. Nach dem „Anschluss“ tritt er der NSDAP bei und wird SA-Scharführer. Jetzt, nach dem Ende des Nationalsozialismus, versucht er erneut die Seite zu wechseln. Kronberger tritt die Flucht nach vorne an und erstattet bei der Staatspolizei „Anzeige gegen Angehörige der SA im Judenlager Engerau“. Er bietet sich als Kronzeuge an und erklärt, dass er selbst von Herbst 1944 bis zum 29. März 1945 „im Judenlager Engerau“ als SA-Scharführer „in besonderer Verwendung“ eingesetzt war.
Kronberger bei der polizeilichen Anzeige am 15. Mai 1945:
„Als die SA das Judenlager in Engerau errichtete, wurden ca. 2000 Juden (ungarische) in das genannte Lager aufgenommen. An den Juden wurden folgende Gewalttaten verübt: Anlässlich des Abmarsches Ende März 1945 aus dem Lager Richtung nach Deutsch Altenburg wurde ich als Wegführer bestimmt und ging an der Spitze des Zuges. Hinter mir fand eine wüste Schießerei statt, bei der 102 Juden den Tod fanden. An dieser Erschießung nahmen teil: SA-Sturmführer Falkner, SA Truppenführer Neunteufel Wilhelm […], Marine-SAMann Acher, SA-Oberscharführer Karkofsky [richtig: Kacovsky].
Ich war selbst Zeuge dieser grundlosen Erschießung und werde mich zwecks Ausfindungsmachung noch persönlich bemühen und das von mir gefundene Anschriftenmaterial bekannt geben.“
Am stärksten belastet Kronberger den 34-jährigen Maler und Anstreicher, SA-Truppenführer Wilhelm Neunteufel. Mehrere Angehörige der SA-Wachmannschaft werden in den folgenden Tagen verhaftet. Die Abteilung IV des Polizeikommissariates Landstraße in der Rüdengasse beginnt mit der Einvernahme der Verdächtigen. Alle bestätigen im Wesentlichen die Angaben, belasten allerdings auch Kronberger bezüglich der Ermordung von ungarischen Juden.
Der 49-jährige Koch Alois Frank sieht keine Veranlassung, seine Taten zu verschweigen. Handelten aus seiner Sicht doch alle Beteiligten „nur auf Befehl“.
Frank bei der polizeilichen Niederschrift am 23. Mai 1945:
„Am 20. oder 21. Feber stand ich auf Posten und in der Nacht versuchte ein Jude zu flüchten. Ich erschoss ihn vorschriftsgemäß. Am nächsten Tag sah ich, dass er von rückwärts durch die Brust getroffen war.“
Aufgrund der massiven Anschuldigungen von Neunteufel und Frank wird Kronberger im Frühjahr 1945 schließlich noch einmal von der Polizei einvernommen. Kronberger versucht, von seinen Taten abzulenken, und gibt die Namen weiterer Täter preis. Er erkennt bald die Aussichtslosigkeit seiner Situation und kann nur schwer verstehen, warum nun auch er, der „Kronzeuge“, in Haft genommen wird.
Das Lager Engerau
Im November und Dezember 1944 kommen rund 2.000 ungarische Juden mit einem Transport aus Budapest am Bahnhof von Engerau (Petržalka, Bratislava) an. Sie werden in alten Baracken, Bauernhöfen, Scheunen, Ställen und Kellern der Ortsbevölkerung untergebracht und müssen Schanzarbeiten leisten. Die ungarischen Juden werden in den letzten Monaten der NS-Herrschaft gezwungen, den sogenannten „Südostwall“ gegen die heranrückende Sowjetarmee zu bauen. Ein militärstrategischer Unsinn, da er gegen die Panzer der Sowjets keinen Schutz bieten konnte. Das Lager Engerau besteht aus mehreren Teillagern, die von großteils aus Wien stammenden SA-Männern sowie von „Politischen Leitern“ bewacht werden. Die Lebensumstände im Lager Engerau sind katastrophal. Täglich sterben mehrere Häftlinge an den menschenunwürdigen Bedingungen, an Hunger, Kälte und Entkräftung. Andere werden von Angehörigen der Wachmannschaft „auf der Flucht erschossen“, erschlagen oder sind zur „Liquidation“ freigegeben worden, wofür eigens einige SA-Männer „zur besonderen Verwendung“ abgestellt werden. Am 29. März 1945 wird das Lager Engerau evakuiert. Der Marsch der Gefangenen führte über Wolfsthal und Hainburg nach Bad Deutsch-Altenburg. Dabei erschießen SA-Männer an die hundert Personen.
Der Prozess
Ende Mai 1945 verhaftet die Polizei auch den 43-jährigen Sattlergehilfen Konrad Polinovsky. Aus den Gerichtsakten geht nicht hervor, wer ihn belastet. Bereits im Sommer 1945 findet im Landesgericht Wien der Prozess gegen die vier ehemaligen SA-Männer statt. Ihnen wird die Ermordung von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern vorgeworfen. Die Angeklagten stehen im August 1945 vor einem österreichischen Gericht. Die Alliierten beobachten den Prozess aufmerksam.
Die Urteile
Am 17. August 1945 fällt das Volksgericht Wien seine Urteile:
Kronberger, Frank und Neunteufel werden vom Volksgericht in Wien unter anderem wegen „des Verbrechens des vollbrachten, vielfachen gemeinen Mordens“ zum Tode verurteilt und im November 1945 hingerichtet. Polinovsky wird wegen „des Verbrechens der Quälerei und Misshandlung“ zu einer achtjährigen Kerkerstrafe verurteilt. Er wird nach zwei Jahren Haft von Bundespräsident Karl Renner begnadigt und im Dezember 1949 entlassen.
Engerau: The Forgotten Story of Petržalka,
bis 20. April 2016
Sonderausstellung des jüdischen Gemeindemuseums Bratislava im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW),
Wipplinger Straße 6–8, 1010 Wien (Altes Rathaus), Eintritt frei