Wie kam der Schriftsteller Robert Schindel zu seiner Opernliebe, allen voran jener zu Richard Wagner? Im zweiten Teil unserer Serie „Unterwegs mit“ begleitete Helene Maimann ihn in die Staatsoper, um es herauszufinden.
Von Helene Maimann (Text) und Julia Stix (Fotos)
Nach sechs Stunden Parsifal verlässt der Blau die Oper.
Es regnet in Strömen.
„Das auch noch“, sagt er seufzend.
(Otto Schenk)
Am Anfang stand die Tante Trude, genannt TeTe, eine Ziehtante von Robert Schindel, Zahnärztin, verheiratet mit, aber getrennt von seinem Onkel Erich, ebenfalls Arzt. „Die Te- Te, äußerst musikalisch und schönstimmig, hat mich mit dreizehn zum ersten Mal in die Oper mitgenommen, zu Fidelio. Ich war überwältigt.“ Fidelio nimmt die Themen auf, die Schindels Leben von Anfang an bestimmt haben: Tyrannei, Gefangenschaft, Verfolgung und Rettung aus höchster Not.
Schindels Vater, René Hajek, war einen Monat vor der Befreiung im KZ Dachau als politischer Häftling erschossen worden, seine Mutter Gerty überlebte die KZs Auschwitz und Ravensbrück. Er selbst war sein erstes Lebensjahr als Robert Soel versteckt, im jüdischen Kinderspital in der Wiener Tempelgasse, damals Mohaplgasse. Die Angst vor Dunkelheit, vor Wegsperrung und geschlossenen Räumen prägte seine Kinderjahre. Die Freiheitsoper Fidelio traf ihn im Innersten und wurde zu seinem musikalischen Leitstern. „Von einem Tag zum anderen ist das Leben ein anderes geworden. Fidelio ist lange meine Lieblingsoper geblieben. Die TeTe war gescheit und hat mich dann in Opern geführt, die nicht zu schwergewichtig waren und einem Buben wie mir gefallen mussten: Figaros Hochzeit. Freischütz. Seit damals bin ich klassikernarrisch. In der FÖJ (der kommunistischen Freien Österreichischen Jugend, Anm.) haben sie mich Beethoven gerufen.“ Die Freunde hörten John Coltrane und Bob Dylan. Schindel ging in den Musikverein und auf den Stehplatz in die Oper. Seither weiß er, wie einem das Kreuz wehtut, wenn man stundenlang auf der Galerie gestanden ist. Wie sich ein Rockkonzert anhört und anfühlt, weiß er nicht, er hat sich da quer zu seiner Generation gestellt.
Das Freiheitspathos des Fidelio ergreift ihn nach wie vor. Wenn der gefangene Fidelio von Freiheit singt, reißt ihn das mit. „Für gutes Pathos habe ich eine Schwäche. Leider. Bestimmte Formen von Kitsch berühren mich, das gebe ich zu. Schiller war lange mein Hero. In meiner eigenen Kunstproduktion versuche ich, Pathos zu vermeiden, aber in der Oper lasse ich es zu.“ Und damit sind wir bei Richard Wagner.
Ich kenne Robert Schindel seit meiner Jugend, wir sind befreundet und wissen viel voneinander, aber von seiner Opernliebe hatte ich lange keine Ahnung. Er hat das verborgen, geradezu geheim gehalten. Seine Genossen in der Kommune Wien und in der maoistischen Bewegung hielten die Oper für eine Kunstform des Establishments, bürgerliches Zeug, Überbleibsel einer untergegangenen Epoche, und Schindel zog brav mit und versagte sich seine Leidenschaft für längere Zeit. Stattdessen entdeckte er den Avantgardefilm, Godard, Kubelka, Schröter, schrieb Filmkritiken und erste lyrische Texte, wurde Bibliothekar in der Wiener Hauptbücherei und Nachtredakteur bei Agence France Press. Als der lange Mai vorbei und der Kommunismus untergegangen waren, grub er tiefer und legte seine jüdischen Wurzeln frei. Anfang der Neunzigerjahre erschien „Gebürtig“, sein Durchbruch als Schriftsteller. Die Schoah war sein zentrales Thema geworden. Wenn wir einander trafen, redeten wir über alles, nur nicht über Musik. Inzwischen hatte ihn die Oper längst wieder, aber das fand ich erst heraus, als ich ihm einmal über den Weg lief und er gerade in eine Vorstellung ging. In welche? „Tannhäuser“, sagte er. Wagner! „Ich liebe Wagner“, sagte er und war schon weg.
Irgendwann fing ich an, ihn zu befragen wie Elsa von Brabant den Lohengrin. Ich liebe ja ebenfalls die Oper, gehe aber eher selten hin. Meine Leidenschaft gilt ausgefallenen, großartigen Inszenierungen, dem Schauen, dem Bühneneindruck, und mir reichen auch Übertragungen oder Aufzeichnungen, vor allem von Mozart. Schindel braucht das unmittelbare Klangerlebnis, das Eintauchen in den Ort des Geschehens. Er ist geradezu süchtig nach fast jeder Art von klassischer Musik. Opern sind für ihn Gefühlskraftwerke. Zwei- oder dreimal im Monat Oper, dazwischen Konzerte – in den letzten Jahren nimmt er jede Gelegenheit wahr. „Das hat auch was Therapeutisches. Ich setze mich hin, entspanne mich, höre und fühle, kann das Denken ausschalten. Das ist wohltuend und befreiend bei dem ständigen Wortchaos in meinem Kopf. Und was Wagner anlangt: Zu seiner Zeit war das Pathos akzeptiert. Auch wenn man sich heute seine Texte ebenso wenig anhören kann wie viele Theaterstücke aus dem vorigen Jahrhundert – die Musik ist großartig. Der Ring, Tristan und Isolde, Tannhäuser, der Holländer, diese Geschichten von Suchen, Irren, Qual und Erlösung, das ergreift mich jedes Mal. Nur den Meistersingern gehe ich aus dem Weg. Das ist mir schon zu viel Nationaloper.“
Wir beschließen, miteinander in die Staatsoper zu gehen, zu Parsifal, einige Tage nach Ostern, in der Inszenierung von Christine Mielitz. Das Publikum ist festlich gestimmt und gekleidet, bis auf einige Touristen, die in ihrer gewohnt nachlässigen Kluft daherkommen. Parsifal gehört zum Osterritual des Wiener Bürgertums. Wir sitzen halbmittig am Balkon, nicht die besten Karten, nicht die schlechtesten, dort, wo sich die Stammgäste einfinden. Vor uns nimmt eine Dame Platz, die sofort eine Partitur herauszieht und ihre Leselampe zückt, sie wird die Augen in den nächsten Stunden kaum heben. Auch anderen Leuten ist deutlich anzumerken, dass sie das Bühnengeschehen und auch diese Inszenierung oft erlebt haben. Der Dirigent Christian Thielemann wird mit frenetischem Beifall begrüßt. Punkt halb sechs geht es los, schon die Ouvertüre versetzt das Publikum in eine sanfte Trance, die, von zwei Pausen abgesehen, fünf Stunden andauern wird. Vor einigen Jahren habe ich diese Inszenierung mit Thomas Quasthoff als Amfortas gesehen, eine magische, aufwühlende Vorstellung, die ich vom Parkett aus erlebte. Diesmal bin ich froh über die Distanz zur Bühne, denn da kann ich das Libretto genauer verfolgen, schließlich ist Robert Schindel ein Poet und Wortkünstler. Der Text ist einfach schrecklich, so viele „Heil dir“ auf einmal …
Auch Schindel stört die verquaste Sprache, aber er nimmt sie hin, auch die weihevoll gedehnte Handlung des dritten Aktes. Dem Erlösungsgedanken kann er viel abgewinnen, es hat was Buddhistisches, sagt er, und die kunstvolle Musik wiegt sowieso alles andere auf. Schindel liebt die Leitmotive, das Literarische, das Rauschen und Schwelgen in Wagners Musik. „Der Steg, der von Natur in Kunst führt, ist das Religiöse“ hat er vor kurzem in einem Essay über Parsifal geschrieben. „In der Kunst Richard Wagners durchpochen – so scheint es mir – die erschütternden und erhabenen Themen der Menschen, die sich in alle Richtungen ausbreitende Zeit.“ Otto Schenk, der fast alle Opern von Wagner inszeniert hat, lässt in seinen Erinnerungen einen Zweiten Geiger Folgendes sagen: „Man kann sich den Wagner angewöhnen, aber man kann sich schwer den Wagner wieder abgewöhnen. Wenn man nach einem Wagner in eine andere Oper geht, kommt sie einem a bissel dürftig vor. Man hat das Gefühl, die Direktion hat ein paar Musiker entlassen. Ganze Instrumente und Instrumentenreihen von Blechbläsern sitzen auf einmal nicht mehr da.“ Das dürfte auch für Schindel gelten.
Dem Wagnerkult, der heute wieder modern geworden ist, hängt er nicht an. „Außermusikalische Gründe, die für viele Juden bis vor hundert Jahre galten, die zu den Deutschen gehören wollten und für die Wagner Bestandteil einer gelungenen Assimilation war, treffen auf mich nicht zu. Die offen judenfeindlichen Passagen halten sich seinem Werk in Grenzen, die waren eher zeitgeistig und die nehme ich halt mit. In der Musik spielen sie keine Rolle. Und ich bin ja auch kein Wagnerianer, der sonst nichts anderes gelten lässt. Ich liebe fast alles in der Klassik, auch in der klassischen Moderne. Mozart natürlich. Das ist ganz große Oper. Don Giovanni ist vielleicht sogar die Oper aller Opern. Die Geschichte der Hauptfigur ist auf den Punkt gebracht und dramaturgisch ausgewogen. Gleichzeitig hat Mozart alle Ambivalenzen des Verführers und Vergewaltigers Giovanni musikalisch ausgespielt, seinen widersprüchlichen Charakter. Das Interessante ist doch, dass ein Schurke auch viele sympathische Seiten aufweist. Don Juan ist immer auf der Suche, von der Verführung verführt und in die Verliebtheit verliebt. Aber sobald es ernst zu werden droht, funktioniert es nicht mehr – ein Thema, das heute aktueller ist denn je.“
Ihn faszinieren natürlich auch die musikalischen Adaptionen von großer Literatur, etwa durch Verdi. „Macbeth ist nicht nur musikalisch eine sehr schöne Oper, sondern auch literarisch interessant. Fast alles, was das Stück erzählt, kommt auch in der Oper vor, ungemein verdichtet. Ich würde sogar so weit gehen, Macbeth als kongeniale Adaption zu bezeichnen. Alles ist da: Liebe, Eifersucht, Rache, Machtgier, Wahnsinn, in einem bedrohlichen und aufwühlenden musikalischen Rahmen.“
Schubert, Beethoven, Brahms, Webern, Mendelssohn Bartholdy, Puccini, Tschaikowsky, Rimski Korsakow, Orff, sie stehen alle auf Schindels Liste. Ebenso Schönberg, Berg, Janá ek. „Janá ek verehre ich sehr. Das Totenhaus ist eine fantastische Oper, die all das, was man sich von einer Oper erträumt, einlöst und tatsächlich ein Gesamtkunstwerk ist, ein Verschmelzen von Alt und Neu. Und dann Strawinsky, Stockhausen. Ich bin eben unersättlich, was Musik anlangt. Außer Barockopern. Bach und Händel, da bin ich reserviert, Operetten mag ich gar nicht, und auch Johann Strauss sagt mir wenig. Rossini langweilt mich. Aber das hat mit persönlichem Geschmack zu tun, ich hüte mich vor einem Urteil.“ Gibt es einen Lieblingskomponisten? „Gustav Mahler. Ihm fühle ich mich verwandt, bin es auch weitschichtig. Mahler versuchte, Unvereinbares zu vereinen, Hohes und Niedriges zusammenzubringen und gleichzeitig das Pathetische, das Erhabene zu brechen. Das ist sehr modern. Auch Richard Strauss steht mir nahe, wegen seiner Gemeinsamkeiten mit Mahler (und Wagner, würde ich sagen). Arabella, Elektra, Salome, das sind wirklich große Opern.“
Zuletzt haben wir uns bei einem Stadtspaziergang getroffen, besuchen das leere Opernhaus. Er genießt das Ambiente hier. „Die Staatsoper hat sich seit meiner Jugend nicht verändert, fast überall bin ich schon gesessen oder gestanden, ich freue mich an der gewissen Feierlichkeit, die einen erfasst, wenn man hier hereinkommt. Aber ich fahre auch sehr gerne zu Festspielen, nach Erl in Tirol und natürlich nach Salzburg. Dabei bin ich keineswegs ein Experte! Ich höre meist gar nicht die musikalischen Finessen, die die Kritiker bewegen, mich regt auch nicht jeder Kickser auf, wenn die Inszenierung spannend ist. Das ist sie leider nicht immer, wie zuletzt bei Titus von Mozart hier in Wien.“
Zur Zeit treibt es ihn fast unentwegt in die Staatsoper und in die Konzertsäle, das hängt auch mit seiner intensiven literarischen Produktion zusammen, für die er diesen Ausgleich braucht. Er schreibt an einem neuen Roman, „Der Kalte“, die Geschichte eines ehemaligen politischen Häftlings, Schreiber des SS-Standortarztes in einem Konzentrationslager. Der Roman zentriert sich um das Wendejahr 1986, als in Österreich drei große politische Kämpfe ausbrachen: Die Kontroverse um den Präsidenten, Kurt Waldheim, der Kampf um ein Denkmal, nämlich das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka und schließlich die wüsten Krawalle um das Burgtheater und seinem neuen Direktor Claus Peymann, der sofort mit dem Stück Heldenplatz von Thomas Bernhard die Öffentlichkeit polarisierte und auch im Ensemble des ehrwürdigen Hauses heftig umstritten war. Robert Schindel hat mehr als zwei Drittel fertig, das Buch soll im Frühjahr 2013 bei Suhrkamp erscheinen. Das bedeutet, dass er heuer noch viel Schreibarbeit vorhat und die Musik ihn oft auf ihre Schwingen wird nehmen müssen …
Soeben hat er angerufen. „Ich war in den Gurre-Liedern, im Musikverein, mit den Philharmonikern unter Zubin Mehta. Es war toll! Und wie geht’s dir?“ Gut, auch ich arbeite viel, aber auf mein nächstes Konzert muss ich noch einen Monat warten. Aber dann! Eric Burdon and The Animals. In der Wiener Staatsoper.
Robert Schindel wurde 1944 in Bad Hall als Kind jüdischer Kommunisten geboren. Er überlebte die Verhaftung der Eltern, die, als elsässische Fremdarbeiter getarnt, von der Exil-KPÖ nach Österreich geschickt worden waren, um in Linz eine Widerstandsgruppe aufzubauen. Seine Mutter fand ihn erst nach dem Krieg wieder. Schindel, der zunächst Kommunist, später während der Siebzigerjahre Maoist war, schrieb bereits früh Lyrik und Prosa und ist seit 1986 freier Schriftsteller. Eine zentrale Rolle in seinem Werk spielt die Schoah und sein ambivalentes Verhältnis zu Wien, der „Vergessenheitshauptstadt“. 1992 erreichte Schindel mit seinem Roman „Gebürtig“ seinen literarischen Durchbruch, der 2001 mit Lukas Stepanik verfilmt wurde. 2010 veröffentlichte er das Stück „Dunkelstein. Eine Realfarce“ im Innsbrucker Haymon Verlag, das sich mit dem Wiener Judenrat während der NS-Zeit und den Judenräten im Allgemeinen auseinandersetzt, die jeden Augenblick unter Lebensgefahr zwischen Pest und Cholera zu entscheiden hatten. 2011 erschien bei Suhrkamp der Essayband „Man ist viel zu früh jung“, in dem auch der Text „Es lacht die Aue“ über die Oper Parsifal enthalten ist.
2006 gründete Schindel gemeinsam mit Rudolf Scholten in Heidenreichstein Literatur im Nebel, das seither jährlich einem weltbekannten Autor oder einer Autorin ein zweitägiges Lesefestival widmet. Schindel ist Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2009 leitet er an der Universität für Angewandte Kunst das Institut für Sprachkunst.