Er ist unbequem und herausfordernd – und überaus produktiv: In vierzig Jahren drehte Amos Gitai rund siebzig Dokumentar- und Spielfilme. Auf der Biennale von Venedig stellte der Dauergast internationaler Filmfestivals mit „Laila in Haifa“ seinen jüngsten Film vor.
Von Gabriele Flossmann
Sein reiches kinematografisches Werk setzt sich mit den großen Themen des 20. Jahrhunderts auseinander: Krieg, Migration, Geopolitik und Religion. Beeinflusst von seiner eigenen Familiengeschichte spiegeln seine Filme die historische Entwicklung Israels, zeigen seine tiefe Verbundenheit zu seiner Heimat, aber auch seine Zerrissenheit. Seine Mutter, eine in Palästina vor der Staatsgründung geborene Sabra, lehrte die Bibel aus weltlicher Sicht. Der aschkenasische Vater war der Bauhaus-Schüler Munio Gitai Weinraub, der vor den Nazis aus Berlin nach Palästina flüchtete und später in Haifa exemplarische Siedlungen der „Weißen Stadt“ errichtete. Auch der 1950 als Amos Weinraub geborene Regie-Autodidakt studierte zunächst Architektur, wandte sich aber dem Film zu, weil er seine An- und Einsichten lieber möglichst direkt kommunizieren wollte.
Er entwickelte eine ganz eigene Filmsprache, mit fließenden Grenzen zwischen fiktionalen und dokumentarischen Genres. So inszeniert Gitai dokumentarisches Material, gespielte Szenen hingegen stellt er wie reale Ereignisse dar. Waren es in seinem Episodenfilm A Tramway in Jerusalem Zufallsbegegnungen von jüdischen und arabischen Israelis in einer Straßenbahn, so präsentiert er in seinem jüngsten Film Laila in Haifa ein Mosaik von Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft, die einander in einer Bar ihre jeweiligen Lebensumstände erzählen. Aus der Zufälligkeit realer Begegnungen und Trennungen in Haifas Nachtleben entwickelt er die Utopie eines friedfertigen Miteinanders. Auch dieser Film folgt seiner Überzeugung, wonach jede Gesellschaft für einen kreativen Austausch den „Anderen“ brauchen würde.
Schon mit seinen frühen Filmen entfachte Amos Gitai heftige Kontroversen. So erzählte er in der Dokumentation Haus (hebräisch Bait) anhand wechselnder Besitzer eines Jerusalemer Hauses die Geschichte Israels von der Zeit des britischen Mandats über die Staatsgründung und Vertreibung der Palästinenser bis in die 1980er Jahre. Der Film, den er für das israelische Fernsehen gedreht hatte, wurde in Israel allerdings nie ausgestrahlt – ebenso wie zwei Folgeprojekte, Wadi und Feldtagebuch. Wadi handelt von einem Tal in Haifa, in dem jüdische Überlebende des Holocaust und muslimische Palästinenser in einer Enklave friedlicher Koexistenz und Armut zusammenleben. Im Dokumentarfilm Feldtagebuch geht es bei oberflächlicher Betrachtung um die Eskalation der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Eigentlich aber reflektiert der Film auf radikale Weise die Macht der Kamera in Zeiten des Krieges: Immer wieder versuchen Soldaten, mit ihren Händen das Kameraobjektiv zu verdecken, sobald sie merken, dass Gitai kein Reporter des israelischen Fernsehens ist und seine Aufnahmen eine „andere Wahrheit“ über das Westjordanland und die israelischen Besatzer enthüllen könnten. Im Dokumentarfilm Kippur – Kriegserinnerungen verarbeitet Gitai ein persönliches Trauma: Als Mitglied einer Rettungseinheit überlebte er im Jom-Kippur-Krieg einen Helikopterabsturz. Für den Film ließ sich der Regisseur von seinen ehemaligen Kameraden interviewen.
Im französischen Exil begann Amos Gitai schließlich Mitte der 1980er Jahre, Spielfilme zu drehen. Zunächst verfilmte er das Buch Esther der hebräischen Bibel: Durch ihre Heirat mit dem nichtjüdischen König Achaschwerosch verhalf die Jüdin Esther ihrem Volk zum Sieg über seine Unterdrücker. Das Purim-Fest erinnert an diese Geschichte der Befreiung. Gitai erzählt sie bis zum bitteren Ende: Esther fordert Rache an den Feinden ihres Volkes. Neun Jahre später drehte Gitai seinen zweiten Spielfilm: Berlin–Jerusalem ist die Geschichte der Dichterin Else Lasker-Schüler. In Golem – Geist des Exils (1991) verband Amos Gitai die biblische Geschichte des Buches Ruth mit der Geschichte des Golems aus der jüdischen Kabbala – aber nicht als außer Kontrolle geratene Maschine, sondern als Geist des Exils. Zu seinen international erfolgreichen Filmen gehört Disengagement mit Jeanne Moreau und Juliette Binoche in den Hauptrollen. Gitai, der nach der Wahl von Shimon Peres zum Premier wieder nach Israel zurückkehrte, erzählt die Geschichte einer Räumung jüdischer Siedlungen im Gazastreifen unter Premier Ariel Scharon im Jahr 2005. Darin nimmt er auch den Gedanken der Diaspora und des zionistischen Traums wieder auf.
NU: Sie haben Architektur studiert. Warum haben Sie sich dennoch dem Film verschrieben?
Amos Gitai: Seit ich im Jom-Kippur-Krieg den Abschuss meines Helikopters aufgrund merkwürdiger Umstände überlebt habe, sehe ich mich als Zeitzeugen, der über Gesehenes und Erlebtes nicht schweigen darf. Ich bin extrem interessiert, fasziniert und verstört von diesem Land. Und ich denke, es braucht ein starkes Kino, kein schmeichelndes oder wohlgefälliges, sondern ein Kino, das sich mit der Geschichte Israels auseinandersetzt.
Sie zeigen in Ihrem Film eine tatsächlich existierende Bar mit einer angeschlossenen Galerie, in der ein Fotograf Kriegsbilder aus dem Nahen Osten ausstellt. Können Kriegsbilder als Kunstobjekte verkauft werden, oder wird damit das menschliche Elend kommerzialisiert? Was man dann ja auch von so manchem Ihrer Filme sagen könnte.
Tatsächlich ist die Wahrheit inzwischen so sehr vom Vorwurf der „Fake News“ kompromittiert, dass reale Bilder kaum mehr die Wirkung haben, die sie haben sollten. Die Kunst kann mittlerweile die Wahrheit viel besser vermitteln, indem sie eklektisch damit umgeht und den Schwerpunkt auf jene Inhalte legt, die ein Künstler oder eine Künstlerin vermitteln will. In diesem Sinne sind auch Dokumentarfilme und Fotoreportagen künstlerische Medien. Nur so können wir die Heuchelei und Dekadenz vieler Politiker bloßstellen. Menschliches Elend zählt für die sogenannte Elite, egal ob in Politik oder Wirtschaft, offenbar ohnehin kaum mehr. Mit den Gesprächen, die in der Bar stattfinden, will ich auch jene entlarven, die mit ihrer verbal beteuerten Political Correctness in erster Linie ihr Gewissen beruhigen wollen.
Da in der Bar, die Sie zeigen, jeder seine eigenen Vorstellungen davon hat, was Political Correctness bedeutet, kommt es entweder zum Streit, oder man einigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Kann dieser dann auch korrekt sein?
Das wirkliche Elend existiert, wie zum Beispiel in den Flüchtlingslagern weltweit. Da ist rasches Handeln gefragt und kein politisch korrektes Blabla. Was Flucht und Elend für die Menschen bedeuten, damit habe ich mich schon in Disengagement auseinandergesetzt. Aber inzwischen sind die Spannungen und die politische Verfolgung noch ärger geworden. Auch der Sündenfall des kommerzialisierten Kinos ist tiefer: Wenn es in einem Hollywood-Film um Verfolgung geht, zählt meist nur noch der Action-Aspekt. Künstlerische Filme wie Robert Altmans Short Cuts oder John Hustons wunderschöne Hommage an James Joyce, Die Toten, liegen schon Jahrzehnte zurück. Filmstudios und Produzenten würden mittlerweile schon die Drehbücher in den Müll werfen, weil sich solche Stoffe angeblich nicht verkaufen. Ich sehe es als großes Privileg, dass ich Filme drehen kann, so wie ich sie will. Das kann ich nur deshalb, weil ich mit Mini-Budgets arbeite und weil die großen Festivals wie Berlin, Cannes und Venedig meine Filme zeigen.
Einige Ihrer Filme wurden in Israel nicht gezeigt. Liegt das daran, dass Sie zu kritisch mit Politikern Ihres Landes umgehen?
Politiker wie Netanjahu, Trump, Orbán – und vielleicht gibt es ja auch den einen oder anderen in Österreich – sorgen zuerst einmal für Chaos und Rassismus. Und dann präsentieren sie sich als Politiker, die Ordnung schaffen wollen. Sie säen Zwietracht in das friedliche Neben- oder Miteinanderleben unterschiedlicher Ethnien; und wenn ihre Saat aufgeht und Gewalt zwischen den Ethnien herrscht, dann kommen die selbsternannten Ordnungshüter. Trump ist da ein gutes – oder besser gesagt: ein schlechtes – Beispiel. Unter ihm sind die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Schwarz und Weiß bis an den Rand eines Bürgerkriegs eskaliert. Und Netanjahu steht ihm, was das Schüren des Rassismus zwischen Juden und Arabern betrifft, nicht viel nach.
Die in Ihrem Film gezeigte Bar in Haifa, in der jüdische und arabische Israelis friedlich aufeinandertreffen, gibt es tatsächlich. Wie ist so etwas möglich?
Haifa ist immer noch die moderateste Stadt in Israel. Jerusalem wird zu sehr von den Religionen dominiert, um eine friedliche Koexistenz zu ermöglichen. Und Tel Aviv will vor allem cool und hip sein und drängt daher die ethnischen Spannungen in den Hintergrund. Vor der Staatsgründung gab es in Haifa drei Bürgermeister. Einen britischen, einen jüdischen und einen arabischen – und jeder Entscheidung ging ein Konsens voraus. Dieser Konsens nimmt leider immer mehr ab, und so ist die Bar bis heute ein Exil für all jene, die immer noch von einer friedlichen Koexistenz träumen.
Wer betreibt diese Bar?
Der Besitzer ist ein Palästinenser. Als die Kulturministerin der vorigen Regierung alle arabischen Theater in Haifa schließen ließ, öffnete er diese Bar, um Gleichgesinnten ein Forum zu geben.
Sie haben eine Ausbildung als Architekt und drehen Filme. Gibt es noch weitere künstlerische Disziplinen, die Sie interessieren?
Ich hatte schon Ausstellungen meiner bildenden Kunst in der Galerie Thaddaeus Ropac in Salzburg, und ich bin mit ihm wegen einer weiteren Schau im Gespräch. Er hat mich auch einmal gefragt, ob ich bei den Salzburger Festspielen eine Oper inszenieren würde. Die einzige Oper, die ich bisher inszeniert habe, war Verdis Otello in Neapel, das aber nur unter der Bedingung, dass ich mein Konzept umsetzen konnte: Ich wollte die Oper als eine frühe europäische Migrationsgeschichte inszenieren. Als Geschichte eines gutaussehenden, sehr talentierten Mannes, der nach Europa kommt, um Karriere zu machen. Doch Rassismus und Eifersucht zerstören seine Ehe mit einer schönen weißen Frau, ja, seine ganze Existenz. Seit der MeToo-Bewegung sollte man das Ende der Oper überhaupt umschreiben: Desdemona sollte Otello umbringen, weil das Stück sonst das Vorurteil manifestieren würde, dass Ausländer per se für europäische Frauen gefährlich sind. Vielleicht interessiert man sich ja in Salzburg oder Wien für meine Interpretation von Opern.