Seit der Staatsgründung Israels hat das für Einbürgerungen zuständige Innenministerium Konversionen in nicht-orthodoxen Synagogen außerhalb des Landes anerkannt – nicht aber jene im eigenen Land. Nun konnte das liberale Judentum kurz vor dem Urnengang im März in diesem Kampf einen wichtigen Erfolg erzielen.
Von Eric Frey
In einer Knesset, die Islamisten, palästinensische Nationalisten und jüdische Rassisten zu ihren Abgeordneten zählt, ist es ein freundlicher Herr mit sanfter Stimme, der seit der jüngsten Wahl im März für die größte Aufregung sorgt: Gilad Kariv, ein neuer Mandatar für die Arbeitspartei, ist ein Reformrabbiner und wird deshalb von den ultraorthodoxen Parteien unerbittlich bekämpft und abgelehnt. Für die charedische Orthodoxie sind alle liberalen und progressiven Strömungen ein Betrug, der das Judentum verrät. Allein der Begriff „Reformrabbiner“ – gar nicht zu sprechen von einer Rabbinerin – löst bei den Charedim Empörung aus. Sie würden Kariv boykottieren, haben das Vereinigte Tora-Judentum (VTJ), Schas und die Religiös-zionistische Partei schon vor der Wahl im März geschworen. „Um G’ttes Willen, man grüßt böse Menschen nicht“, antwortete der VTJ-Abgeordnete Israel Eichler, als er gefragt wurde, ob er Kariv in der Knesset begrüßen würde.
Der 47-jährige gebürtige Israeli, der zwölf Jahre lang die Reformbewegung in Israel geleitet hat und sich bereits fünf Mal um ein Knesset-Mandat beworben hatte, ist solche Reaktionen gewohnt. Er ist vor allem in den USA als Gastredner bekannt. Mit seinem Einzug in die Knesset hofft er, das Monopol der Orthodoxie im Schlüsselbereichen des israelischen Lebens, speziell im Familienrecht, zu schwächen und schließlich zu brechen.
Beste Voraussetzung
Kurz vor dem Urnengang hatte das liberale Judentum vor dem Obersten Gerichtshof in diesem Kampf einen wichtigen Erfolg erzielt: Die Höchstrichter entschieden, dass liberale Konversionen auch dann die Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach dem Rückkehrgesetz erfüllen, wenn sie in Israel vorgenommen werden. Das Gesetz verlangt nur, dass der Übertritt in einer „anerkannten jüdischen Gemeinde“ stattgefunden haben muss. Seit der Staatsgründung hat das für Einbürgerungen zuständige Innenministerium Konversionen in nicht-orthodoxen Synagogen außerhalb von Israel anerkannt, die im eigenen Land aber nicht.
Der Richterspruch hat nur geringe praktische Auswirkungen, denn das liberale Judentum, in dem etwa Frauen mit Männern in allen religiösen Fragen gleichgestellt sind, ist in Israel schwach vertreten. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist zwar nicht religiös, aber hält es doch mit orthodoxen Traditionen. Reformrabbiner nehmen nur wenige hundert Konversionen im Jahr vor, und von diesen Konvertiten hätten die meisten ohnehin Anrecht auf einen israelischen Pass.
Betroffen von der Gerichtsentscheidung sind vor allem Ehepartner von Israelis; hatten sie keine jüdischen Wurzeln, wurde ihnen bisher die Staatsbürgerschaft verweigert, wenn sie nicht orthodox konvertierten. Obwohl auch ein liberaler Übertritt eine lange Vorbereitung erfordert und ein rabbinisches Gericht die Eignung prüft, ist dies dennoch ein einfacherer Weg als eine orthodoxe Konversion, bei der man glaubhaft machen muss, dass man von nun an ein streng religiöses Leben führen wird – was die meisten Israelis bekanntlich nicht tun.
Rütteln am Monopol
Doch das Urteil hat vor allem große Symbolkraft, weil es aus Sicht des israelischen Staates das liberale Judentum mit dem orthodoxen gleichstellt. Damit wird stärker denn je am Monopol des orthodoxen Oberrabbinats über religiöse Angelegenheiten in Israel gerüttelt. Zu diesem Monopol gehört das Familienrecht und damit alle Hochzeiten unter Juden. Denn das israelische Recht kennt keine zivile Hochzeit, wenngleich im Ausland geschlossene zivile Ehen anerkannt werden.
Der Oberste Gerichtshof hatte sich vor dieser Entscheidung lange Zeit gedrückt. Vor 16 Jahren hatte das Israel Religious Action Center (IRAC), das für die Anerkennung des liberalen Judentums kämpft, erstmals Beschwerde gegen diese Praxis eingebracht. Die Richter forderten daraufhin die Regierung und die Knesset auf, eine politische Lösung zu finden, um die Ungleichbehandlung von Konversionen im In- und Ausland zu beenden. Doch diese kam nicht und nicht zustande – und das aus gutem Grund. Die Politiker hätten entweder die ultraorthodoxen Parteien vor den Kopf gestoßen oder – noch schlimmer – das US-amerikanische Judentum, wenn per Gesetz nur orthodoxe Konversionen als legitimer Eintritt ins Judentum definiert würden. Denn in den USA gehört die Mehrheit der Juden zu Reformgemeinden oder der konservativen Bewegung, und auf deren politische und finanzielle Unterstützung kann keine israelische Regierung verzichten.
Massiver Widerstand
Vor allem Langzeitpremier Benjamin Netanjahu hat deshalb jahrelang die Lösung hinausgezögert und nichts unternommen. Als den Richtern schließlich der Geduldsfaden riss und sie eine grundrechtskonforme Entscheidung trafen, reagierte er mit heftiger Kritik. Netanjahu weiß schließlich, wie sehr das Urteil seine orthodoxen Verbündeten schmerzt.
Diese reagierten mit unfassbarem Zorn auf die Entscheidung. In einem TV-Spot wurden liberale Juden als Hunde dargestellt – ein Bild, dessen antisemitischen Konnotationen den religiösen Parteien gleichgültig waren. Das wiederum sorgte unter säkular und liberal eingestellten Israelis für Empörung.
Am heftigsten wird der Konflikt zwischen orthodoxen und liberalen Juden am Kotel, der Klagemauer in Jerusalem, geführt, die als Synagoge gilt. Seit Jahren kämpfen IRAC und auch Vertreter von US-Synagogen darum, dass auch Frauen an der Mauer wie die Männer Tallit tragen und aus der Tora lesen dürfen. Um dies zu verhindern, haben Orthodoxe immer wieder zu physischer Gewalt gegriffen. Eine vom Höchstgericht angeordnete und von der Politik bereits 2016 vereinbarte Lösung wurde jedoch stets nur in Ansätzen verwirklicht. Gegen den so massiven Widerstand der Charedim wagte sich kein Regierungschef an dieses emotionale Thema heran.
Eine Frage der Identität
Ganz überraschend kommt die Haltung der Orthodoxie indes nicht. Jede Religion grenzt sich von allen Strömungen ab, die in ihren Augen nicht mehr dazugehören. Das liegt in der Natur jedes Glaubens. Für Strenggläubige ist der Abwehrkampf gegen liberale Tendenzen ein zentraler Aspekt der religiösen Identität. Das gilt für das Judentum genauso wie für Christentum und Islam.
Das Besondere in Israel ist, dass die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion auch Grundrechte berührt. In anderen Ländern kann man über Heirat und mehrjährigen Aufenthalt im Land das Recht auf Staatsbürgerschaft erwerben. In Israel muss man dafür als Jude anerkannt werden. Das schafft unweigerlich Bruchlinien zwischen den vielen Millionen liberaler Juden in der Diaspora, vor allem in den USA, und der Führung der Orthodoxie im eigenen Land. Die Tendenz in der israelischen Politik, die jüdische Natur des Staates zu betonen, die in der Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes 2018 seinen Ausdruck fand, hat dieses Prinzip einzementiert. Doch damit ist der Staat gezwungen, sich in die rein religiöse Frage, wer als Jude zu gelten hat und wer nicht, einzumischen. Für eine liberale Demokratie ist das eine höchst unbefriedigende Situation, aus der die Entscheidung des Höchstgerichts vielleicht einen Ausweg weisen kann.