Über die Unterschiede zwischen gutem und weniger gutem Musizieren.
VON MARTIN RUMMEL
Weltstar Joshua Bell geigt in einer New Yorker U-Bahn Station.
© Michael S. Williamson/The Washington Post
Man stelle sich vor, eine Gruppe Außerirdischer würde versehentlich im philharmonischen Konzert landen. Sie sähen eine fremde Spezies in einem sehr von einer Farbe dominierten Raum, geteilt in zwei Gruppen: Eine erhöht, verkleidet als Vögel aus der Antarktis, die zweite unten bunt, aber aufgefädelt in Reih und Glied. Dann kommt ein weiterer Vogel, die unten machen ein undefiniertes und sinnloses Geräusch mit ihren Extremitäten. Die Vögel bedienen Apparate, der zuletzt gekommene wedelt nur mit den Extremitäten, aber was erklingt, verstehen auf einer tiefst emotionalen Ebene alle Anwesenden, wundersamerweise auch die Außerirdischen. Die Vögel lassen nach einiger Zeit von den Apparaten ab, die anderen machen wieder das sinnlose Geräusch, und dann verlassen alle den Saal.
Ähnlich wie den Außerirdischen geht es – man kann es ihnen selbst als Musiker nicht wirklich verübeln – auch vielen Irdischen, und nicht nur denen der jungen Generation. Das Ritual überlagert den Inhalt, und der Inhalt wird schon lange nicht mehr zeitgemäß vermittelt. Dabei – und davon kann jeder Musiker ein Lied singen – funktioniert die vielbeschworene Macht der Musik vollkommen unverändert, wenn sie nicht vom Ritual überlagert ist. Wir bräuchten also eine vernünftige Schule des Hörens, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Aufmerksamkeitsspanne unserer Gesellschaft auf rund drei bis fünf Minuten (die durchschnittliche Dauer eines YouTube-Clips) gesunken ist. Wie soll ein Publikum eine Bruckner-Symphonie von über einer Stunde aufnehmen können? Und noch wichtiger: Wie unterscheidet es, was gutes Musizieren ist, und was nicht?
Augen geschlossen – Ohren geöffnet
Die Macht der optischen Suggestion hat schon lange gesiegt: Wie in allen anderen Lebensbereichen auch, entscheidet heute das Auge mehr als das Ohr, ob ein klassischer Musiker berühmt wird. Pavarotti, Caballé und Norman würden heute wohl keine internationalen Karrieren mehr machen, ganz einfach, weil sie zu dick wären, stattdessen werden uns unzählige höchst mittelmäßige Pianistinnen, Sängerinnen und Geigerinnen mit Modelfigur als das Nonplusultra präsentiert. Und wenn Anna Netrebko in Salzburg auftritt, schreibt die Presse über ihre Figur mehr als über ihr Singen. Brillen, Glatzen oder Bärte sind übrigens auch hinderlich für die PR: Der wie ein Buchhalter aussehende Barthold Kuijken ist zwar unumstritten der bedeutendste Musiker seines Fachs, wird es aber im Bild nicht mehr auf die Titelseite des Kulturteils einer Zeitung schaffen.
Es scheint sich außerdem die Meinung durchgesetzt zu haben, dass ein Musiker, der nicht nur in berühmten Sälen auftritt, erfolglos sein muss. Musik ist somit einer der wenigen Berufe, wo Erfolg und Qualität mit Berühmtheit gleichgesetzt werden. Jedoch: Nur weil Herr Meier ihn nicht kennt, muss der Musiker nicht erfolglos oder schlecht sein – der Musiker kennt Herrn Meiers Installateurbetrieb ja auch nicht.
Als leidenschaftlicher Musikkommunikator mache ich mir Sorgen, was geschehen muss, damit beim Zuhören wieder die Augen geschlossen und die Ohren geöffnet werden, und wie wir es kollektiv schaffen, die Handy-Tablet- Wischmentalität beim Musikhören außen vor zu lassen. Das Format „Konzert“ ist in die Jahre gekommen, aber wie in so vielen anderen Bereichen des Lebens auch traut sich niemand, es über Bord zu werfen. Stattdessen werden immer monströsere Konzertsäle gebaut, die noch größere Schwellenängste erzeugen als die bereits existenten. Und wenn man dann hört, worüber die Konzertbesucher in so einem Saal in der Pause schwärmen, kann man sich nur wundern: Sommerfestivals, wo in der Scheune und nicht als Pinguin verkleidet Mozart gespielt sowie mit den Musikern gegessen und gesprochen wird – so ein besonderes Erlebnis! Erstaunlicherweise aber, falls in der Großstadt ein Konzert an einem nicht „etablierten“ Ort veranstaltet wird, geht keiner hin – Gerüchten zufolge, weil das ja nicht für „Qualität“ bürgt. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Wenn das Publikum nämlich sicher und ohne Mediensuggestion beurteilen könnte, was gut ist, würde es sich auch trauen, an einen nicht etablierten Ort zu gehen und selbst entscheiden, ob es wiederkommt.
Klassische (eigentlich ja jede) Musik ist bis zu einem gewissen Grad messbar; das erfordert aber die Unterscheidung zwischen Geschmack und Qualität. Der große Alfred Brendel ist mein Paradebeispiel: Ich würde niemals an der Qualität seines Klavierspiels zweifeln, aber es gefällt mir schlicht nicht. Klang, Balance, Rhythmus – alles stört mich, aber natürlich ist es grandios. Ich mag auch Chagall nicht, aber ich erkläre ihn natürlich nicht zu einem schlechten Maler. Umgekehrt mag ich Tatort, was die TV-Krimis aber nicht zu großem Kino erhebt. Die messbaren Indikatoren in der Musik sind erst einmal die Umsetzung dessen, was in der Partitur steht (die Beurteilung erfordert leider ein gewisses Fachwissen), Intonation (eigentlich würde man annehmen, dass das die meisten Menschen hören – dem scheint aber, besonders in Kritikerkreisen, längst nicht mehr so zu sein), und natürlich die Projektion auf das Publikum. In einer Zeit, in der ein Kritiker nicht mehr merkt, ob es Geiger oder Bratscher sind, die auf der Bühne sitzen (so geschehen neulich bei einer großen Wiener „Qualitätszeitung“), ist das, so scheint es, viel verlangt.
Die Qualitätsunterschiede
Wie lernt man kritisches Hören? Durch den Mut, überall hinzugehen, wo Musik gemacht wird – nicht nur an die etablierten Orte. Durch Radiohören, denn wiederholtes Hören derselben oder ähnlicher Werke schult das Ohr, und die Wahrscheinlichkeit, dass unter mehreren Versionen auch eine wirklich gute ist, ist erstaunlich hoch. Durch das Nutzen von Streamingdiensten, wo ungeahnt viele Aufnahmen eines Werkes zu einem sehr geringen Preis erhältlich sind. Wenn Sie innerhalb eines überschaubaren Zeitraums von ein und demselben Werk Aufnahmen von Harnoncourt, von Dudamel und von Carlos Kleiber hören, entwickeln Sie automatisch einen eigenen Geschmack. Noch besser wären Konzerte des Cleveland Orchestra und des Schulorchesters des Gymnasiums um die Ecke an aufeinanderfolgenden Tagen, denn das zeigt auch die Qualitätsunterschiede.
Der Geiger Joshua Bell, Weltstar auf seinem Instrument, hat sich 2007 in Verkleidung in New York in eine U-Bahn- Station gestellt und gegeigt. Hätten Sie applaudiert oder gar Ihre Verwandten geholt, um ihn zu hören? Setzt man aber den armen David Helfgott in den Musikverein, braucht nur ein Konzertbesucher zu sagen, wie „wundervoll“ die Musik ist, und niemand traut sich zu widersprechen, hauptsächlich wegen der einschüchternden Umgebung. Mit Musik hat das alles aber nichts zu tun.
Ich wünsche mir, dass wir kollektiv wieder verstehen, dass jeder Mensch ein Musikexperte sein kann. Ich wünsche mir, dass die Musikszene ihre Exklusivität wieder gegen eine Inklusionsmentalität eintauscht. Messiaens Quatuor pour la fin du temps ist 1941 von hervorragenden Musikern in einem Kriegsgefangenenlager in Görlitz auf einem schlechten Klavier und Streichinstrumenten mit zusammengeknoteten Saiten uraufgeführt worden und hat, weil es eben hervorragende Musiker waren, bei den 400 Zuhörern mehr ausgelöst als in jeder anderen Aufführung in „bedeutenden“ Sälen danach – auf die Ohren kommt es an.