Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat dramatische Folgen: für die Kunstschaffenden Russlands, aber auch für ihre zumeist jüdischen Mäzene. Ihnen ist zu verdanken, dass das Land kein kulturelles Ödland ist. Sie holten internationale Kunst nach Russland und förderten gleichzeitig zeitgenössisches russisches Kunstschaffen.
VON SIMON MRAZ
Wo immer der Welten Bahnen hinführen werden, gilt es manches, das in Russland durch die Entfesselung des politischen Regimes dort losgetreten und zerstört wurde, in Erinnerung zu behalten. Die Zerstörung, die von der politischen Elite ausgeht, dringt dabei in der direktesten aller Formen nach außen: als Krieg, derzeit in der Ukraine, davor Georgien. Sie trägt sich auch im Inneren des Landes zu, wie etwa in Tschetschenien. Die Zerstörung meint aber auch die Repression der geistigen Freiheit.
Nach den wilden Jahren der ersten postsowjetischen Präsidentschaft unter Boris Jelzin (1991–1999), die zugleich für eine neu gewonnene Freiheit standen, folgte zunächst eine Konsolidierung staatlicher Ordnung in den frühen Putin-Jahren, in denen sich im Kulturbereich neue Initiativen und Institutionen nach westlichem Vorbild herauszubilden begannen. Die Kunstszene erlebte eine Periode der Freiheit, bis im Jahr 2012 der mystische Hobbyhistoriker und Putinflüsterer Wladimir Medinski zum Kulturminister avancierte, der bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt die staatliche Kulturpolitik entscheidend mitprägt. Jede Form zeitgenössischer Kunst- und Kulturauffassung geriet seither ins Visier des berüchtigten Ministers, der Kunst als Funktion des Staates sieht. Unzweifelhaft befinden wir uns gegenwärtig im letzten Akt einer mehr als zwanzigjährigen Tragödie Russlands. Wie lange dieser Akt dauert und welche Opfer er verlangt, wissen wir leider nicht.
Kein Ödland
Trotz des immer schwieriger werdenden kulturellen Umfeldes wäre es falsch, sich Russland als ein trostloses Ödland vorzustellen, in dem es nicht viel mehr gibt als einen Diktator, einen Sicherheitsapparat und eine willfährige Bevölkerung. Gerade in den Städten, und dies sind mehr als nur Moskau und St. Petersburg, gibt bzw. gab es bis zuletzt sehr wohl eine selbstbewusste, gebildete und engagierte bürgerliche Gesellschaft.
Die Zeit zwischen 2000 und dem Ende des Putinregimes wird jedenfalls als Zeitperiode in die Kulturgeschichte eingehen: Vielleicht nicht als eine so strahlende wie die Avantgarde, aber doch eine signifikante, in der Künstlerinnen und Künstler einerseits um Distanz zur sowjetischen Kunstgeschichte bemüht waren und andererseits Beziehungen zur – verpassten – westlichen Kunstgeschichte aufzubauen versuchten. All dies in einem politischen Umfeld, welches die Kunstschaffenden zunächst als „westliche Sektierer“ marginalisiert, später bekämpft hat.
Die Kunst dieser Periode ist ausgezeichnet durch eine erfrischende Vielfalt und Experimentierfreudigkeit sowie eine gewisse Unschuld in dem Sinne, dass sie sich im Abseits entwickelte, verleugnet im eigenen Land und international weitgehend unbeachtet. Sie wird nichtsdestoweniger Gegenstand kunsthistorischer Betrachtungen sein. Und in diesem Zusammenhang wird man sich auch derer besinnen, die in dieser Zeit Kunstschaffende essenziell unterstützt haben.
Jüdisches Mäzenatentum
Die vielleicht größte Gruppe waren jüdische Mäzene. Über reine Westen wohlhabender Russen gibt es zahlreich Recherchen, der Autor des vorliegenden Artikels kann nur Zeugnis ablegen über Geleistetes im Bereich der Kunst, was in keiner Weise Rechtfertigung allfälliger Vergehen im politischen oder wirtschaftlichen Bereich ist. Hier geht es ausschließlich um einen kurzen Einblick in jüdisches Mäzenatentum im Russland der letzten zwanzig Jahre. Es waren interessanterweise fast ausnahmslos jüdische Oligarchen, die sich im Kunstbereich engagierten. Die anderen sammelten Jachten, Häuser oder Militärmaschinen.
Eine ältere Generation von Geschäftsleuten verlegte sich auf klassische Kunst. Vielleicht bekanntester Vertreter dieser Gruppe ist Viktor Wekselberg. Er kaufte einen bedeutenden Teil der weltweit am freien Kunstmarkt angebotenen Fabergé-Kunst zurück, um sie hernach in Petersburg in einem Museum öffentlich zugänglich zu machen. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst wiederum engagieren sich vor allem zwei der Top-Ten-Oligarchen Russlands, Roman Abramovich und zuletzt Leonid Mikhelson.
Abramovichs erstes gesellschaftliches Engagement war wohl der Fußball, den er in Russland zu popularisieren und zu kommerzialisieren mithalf. Nach gelungenem Lehrstück im sportlichen Bereich verlegte er sich auf die Kunst. Gemeinsam mit seiner damaligen Frau Dasha Zhukova gründete er im Jahr 2008 das Garage Museum für zeitgenössische Kunst in einer von dem Avantgarde-Architekten Konstantin Melnikov errichteten Remise, die wiederum von der jüdischen Kultusgemeinde Moskau angemietet wurde. Das Kunstzentrum verschrieb sich zunächst großangelegten Einzelausstellungen internationaler Kunststars wie Marina Abramović, Louise Bourgeois oder Takashi Murakami. Moskau verfügt über keine einzige Museumssammlung moderner oder zeitgenössischer westlicher Kunst, die Garage-Ausstellungen boten dem russischen Publikum also wirklich Neuland – zu einer Zeit wohlgemerkt, als noch nicht absehbar war, dass der Westen zum ideologischen Feind werden sollte.
Ambitionierte Projekte
Im Jahr 2012 lief der Vertrag der Garage mit der jüdischen Gemeinde aus, die das Gebäude in das „Jüdische Museum und Toleranzzentrum“ umbaute. Neben einer Dauerausstellung wurden Personalen prominenter jüdischer Künstler wie Anish Kapoor gezeigt oder die Bedeutung jüdischer Künstler in der russischen Avantgarde aufgearbeitet.
Die Garage entschied, ihren Namen zu behalten und sich in einem der beliebtesten Parks der Stadt anzusiedeln, dem zentral gelegenen Gorki-Park. Um neues Publikum für zeitgenössische Kunst und Kultur zu begeistern, wurden eine Bibliothek sowie ein Kunstvermittlungszentrum gegründet. Zunehmend unterstützte die Garage auch russische Kunst, gründete eine Biennale zu regionaler zeitgenössischer Kunst und errichtete Künstlerstudios, für die sich Künstlerinnen und Künstler aus dem ganzen Land melden konnten.
Ein anderes ambitioniertes Projekt sollte jenes des Geschäftsmanns Leonid Mikhelson werden. Die nach seiner Tochter benannten „Viktoria“ Stiftung (V-A-C) beauftragte den italienische Stararchitekten Renzo Piano, ein riesiges ehemaliges Fernwärmekraftwerk in unmittelbarer Nähe zum Kreml in ein Kunstzentrum zur Unterstützung junger russischer Künstlerinnen und Künstler zu transformieren.
Dem Projekt sollte kein Glück beschert sein. Es kam zu spät, aufgrund der Coronakrise wurde die Eröffnung mehrfach verschoben und schon in den Monaten vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine wurde die Kremlpolitik beständig restriktiver. V-A-C änderte wohl nicht zuletzt aufgrund von politischem Druck die Mission und kündigte an, fortan eine Neubelebung des sowjetischen Formates des Kulturpalastes sein zu wollen. Schließlich geriet die Besichtigung des gerade fertigen Gebäudes durch den russischen Präsidenten im Vorfeld der Eröffnung zu einer Pleite, nur einige Tage nach der Eröffnung trat die Führungsriege des Projektes zurück, das Programm wurde großteils eingestellt bzw. nie gestartet. Es hatte sich schlussendlich herausgestellt, dass in unmittelbarer Nähe des Kremls derzeit nicht allzu viel Platz für avantgardistische Kunst ist, auch nicht bei einem Investment von kolportierten 300 Millionen Dollar.
Nicht im Bereich der Megaprojekte angesiedelt, aber sehr professionell ist das 2016 auf dem Gelände einer ehemaligen Tortenfabrik errichtete Museum des russischen Impressionismus, finanziert vom Geschäftsmann Boris Mints. Er lebt mittlerweile im Exil, unterstützt das Museum aber weiterhin. Die Postulierung eines eigenen russischen Impressionismus mag gewagt sein, umso mehr besticht das Ausstellungsprogramm, wie auch die Forschungsarbeit zu teilweise in Vergessenheit geratenen russischen Künstlern und deren stilistischer Auseinandersetzung mit westeuropäischer Kunst. Das Museum erarbeitete sich einen vorzüglichen Ruf auch durch Kooperationen mit westlichen Museen, denen freilich durch die derzeitigen Sanktionen ein Riegel vorgeschoben wurde.
All diese, auf künstlerischen Dialog zwischen West und Ost ausgerichtete Projekte stehen für ein modernes, aufgeschlossenes Russland – und somit diametral entgegengesetzt der Kreml-Ideologie.
Wohlhabendes Großbürgertum
Gleichzeitig gewann eine Gruppe von wohlhabenden Kunstunterstützern an Bedeutung, die weniger in der Milliardärsliga als im Großbürgertum oder in der Unternehmerschaft zu finden sind. Der Moskauer Promi-Scheidungsanwalt Alexander Dobrovinsky zählt ebenso dazu wie der Besitzer des berühmten Kaufhauses GUM, Mikhail Kusnirovich, der in seinem Einkaufszentrum eine Galerie für zeitgenössische Kunst eingerichtet hat, oder Diana Motsonashvili, die gemeinsam mit ihren israelischen Partnern die führende russische Kunsttransportfirma FineArtWay gegründet hat.
Eine besondere Stellung nehmen einige Kunsthändler ein, die sich außerordentliche Verdienste um die zeitgenössische Kunst erworben haben: Marat Guelman, ein fantastisch wilder Typ, der es schaffte, vom Putin-Berater zur Persona non grata zu werden. Er machte aus der Stadt Perm einen Hotspot zeitgenössischer Kunst, richtete sogar ein Büro der Stadt Perm in Brüssel ein, um sie als europäische Kulturhauptstadt zu bewerben, stellte fast alle russischen Protestkünstlerinnen und -künstler aus und wollte zuletzt aus Montenegro das Haiti des 21. Jahrhunderts machen. Mit seiner ehemaligen Frau Julia gründete er die wunderbare Guelman Galerie.
Der ebenfalls begnadete Kunsthändler Maxim Boxer schuf zu Beginn der Coronapandemie eine Online-Plattform, auf der Künstler ihre Werke zu ganz niedrigen Preisen direkt verkaufen konnten und die sich innerhalb von Wochen zu einem russlandweiten Hit entwickelte.
Ebenfalls erwähnenswert, da mit Österreichbezug, sind der Geschäftsmann Chaim Aizenshtat, Sohn des Rabbiners und Malers Alexander Aizensthat, dessen Familie zurückgeht auf den gleichnamigen, in Eisenstadt begrabenen Rabbiner, sowie der Restaurantbesitzer Ariel Israilov, der in Moskau gleichermaßen zu Hause ist wie in Wien und der zuletzt Gefallen an Kunst und Kunstförderung gefunden hat.
Zeichen der Courage
Aber nicht nur Milliardäre und Millionäre sind Förderer der Kunst. Jüdisches Engagement im Kulturbereich ist wesentlich breiter aufgestellt, mit einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten, die vielleicht nicht nur ihr Geld, ihr Herzblut und Wissen, sondern manchmal ihr Leben für Kunst und Kultur in Russland hingeben. Es seien zumindest drei von ihnen genannt, für den Autor sind sie die eigentlichen Helden des russischen Kulturbetriebs der letzten beiden Jahrzehnte.
Leonid Bashanov, entstammend einer jüdischen Industriellenfamilie, ist ein wahrlich wunderbarer Mensch, der bis zum heutigen Tag unermüdlich für ein Zentrum zeitgenössischer Kunst kämpft. Sein Leben ist mit der noch kurzen Geschichte zeitgenössischer russischer Kunst ab den 1970er Jahren verbunden, mehr noch: Er hat sie durch seinen Einsatz wie kein anderer mitgeprägt.
Als eine ganz andere Förderin der Kunst ist Irina Mak zu nennen. Sie schreibt unbestechlich über Kunst, stets für die besten Zeitungen. Und von allen diesen Zeitungen ist diese tapfere jüdische Frau auch schon vor die Türe gesetzt worden, wenn die Zensur sie loswerden wollte. Ein Beispiel an Mut und Courage ist auch Irina Scherbakova, eine der Leiterinnen der Memorial Gesellschaft. Diese führende, im Dezember 2021 vom Obersten Gericht Russlands verbotene Menschenrechtsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, die Geschichten jener Menschen zu sammeln, die politische Repressionen erleiden mussten, von der Stalin-Zeit bis heute. Sie musste nach Israel auswandern, nachdem Memorial zum ausländischen Agenten erklärt wurde.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat für die Kunstszene Russlands dramatische Folgen. Sowohl für die Künstlerinnen und Künstler des Landes – das Thema jüdischer Künstlerinnen und Künstler konnte in diesem Artikel nicht berührt werden – wie auch für deren Förderer bietet Russland unter der gegenwärtigen Führung kein Zuhause. Jenen, die
sich öffentlich oder auch nur in privaten Chats gegen den Krieg äußern, drohen bis zu 15 Jahre Haft oder sie werden als ausländische Agenten geächtet. Viele verlassen das Land, Kunstschaffende ebenso wie ihre Förderer. Fest steht, dass jenes zarte Kunstpflänzlein, das über fast zwanzig Jahre gewachsen ist, unwiederbringlich ausgerissen wurde.
Es bleibt die Zuversicht, dass auf demselben Boden russischer Kulturgeschichte in besseren Zeiten eine neue Generation heranwächst und jene, die dann schon lange nicht mehr in Russland gelebt haben werden, neue Initiativen und kreative Menschen unterstützen werden.