Identität bedeutet, zu den tausend Irrtümern und Fehlern des eigenen Lebens zu stehen.
„Sagt mir, was bedeutet der Mensch? Woher ist er gekommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?“ So fragt der „Jüngling-Mann“ die Wogen des Meeres in Heinrich Heines Gedicht Fragen und kommt in ihrem Gemurmel, im Wehen des Windes, im Fliehen der Wolken und im gleichgültig kalten Blinken der Sterne zur Gewissheit, dass nur Narren auf Antwort warten.
Trotzdem scheint sich das Fragen nicht nur für Narren zu lohnen; nicht, weil jemand schlüssige Antworten wüsste, sondern weil das Fragen, das Suchen, das Ausschauhalten nach besseren Möglichkeiten zum Menschen gehört und in immer neue drängende Fragen mündet und für kreative Unruhe sorgt.
Die Suche nach Nahrung für Mensch und Vieh, nach Weideplätzen und Wasserstellen bestimmt schon den Lebensrhythmus des biblischen Menschen. Hochbetagt bricht Abraham auf, um neue Weide und Oasen zum Rasten zu finden, getrieben von der Sehnsucht nach dem Paradies, einem Land, „in dem Milch und Honig fließt“. (5. Buch Mose, Kapitel 26,9)
Wie der biblische Mensch versuchen Menschen zu allen Zeiten als „homines viatores“ den Ort zu finden, an dem sie zu jenen werden können, die sie gewesen sein werden, wenn einmal nur mehr ein paar Zeilen an ihren Gräbern daran erinnern, was vorher in ihren Personaldokumenten, in der sogenannten „Identity Card“, vermerkt war: Neben dem aktuellen Wohnort der Ort und das Datum der Geburt, vielleicht noch der Beruf und früher einmal auch noch ein religiöses Bekenntnis. Aber dieses Knochengerüst persönlicher Identität sagt wenig darüber, was einen Menschen über seinen Tod hinaus einzigartig und unverwechselbar macht, nichts von den Tränen der Freude und des Leides, den Höhepunkten wie den Schicksalsschlägen und den daraus gewonnenen Erfahrungen.
Identität zu haben bedeute, so der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908 – 1982), zu den tausend Irrtümern und Fehlern des eigenen Lebens zu stehen und in ihnen den entscheidenden persönlichen Erfahrungsschatz zu erkennen. Gerade in den Niederlagen und in den schmerzlichen Erfahrungen vergeblicher Suche zeigten sich die Identitätskonturen eines Menschen, so Mitscherlich.
Seit vielen Jahren kenne ich Gedichte von Mascha Kaléko; der Zauber ihrer Lyrik rührt vielleicht daher, dass sie ein Leben lang auf der Suche war nach einem Ort, an dem sie leben und arbeiten, sich zu Hause wissen konnte. Neben Christine Lavant ist sie eine der großen Lyrikerinnen des vergangenen Jahrhunderts, der es gelingt, ihr ständiges Suchen, ihre unerfüllte Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit in abgrundtief-liebenswerten Texten zu dokumentieren. 1907 in Polen geboren, übersiedelt sie im Volksschulalter mit ihrer Mutter nach Frankfurt, zieht 1916 nach Marburg und schließlich 1918 nach Berlin in die Grenadierstraße 17 im Scheunenviertel der Spandauer Vorstadt.
Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten lebt sie 1942 bis 1957 in New York. Bei ihrer Ankunft dort ist Mascha Kaléko 31 und ihr Mann, der Musikologe Chemjo Vinaver, 43 Jahre alt, noch jung genug für einen Neuanfang. Sie lernt schnell Englisch, doch dichten kann sie nur in ihrer Muttersprache, mit der Erinnerungen und Emotionen besonders verknüpft sind. Ihr ist klar, dass es nicht genügt, die fremde Sprache zu beherrschen, sondern diese müsse uns beherrschen, ist sie überzeugt und schreibt: „Uns aber beherrscht nur jene Sprache, in der wir zuerst MUTTER sagen und ICH LIEBE DICH. Die Gefühlsassoziationen der Kindheit und ersten Jugend, das Empfindungs- und Geistesgut, die in unserer Muttersprache eingeschlossen sind wie der Nusskern in seiner Schale, sie sind es, die uns in einer neu erworbenen Sprache mangeln.“
Vielleicht ist die Muttersprache Kalékos einziger „Ort“, an dem sie sich geborgen und daheim fühlt; deshalb kann sie gut verstehen, dass es bei Emigranten, die schnell die fremden Sprachen lernen, einen Bereich gibt, der sprachlich vom Alltag abgeschnitten bleibt, weil ihnen die Zwischentöne fehlen. In ihrem Gedicht Der kleine Unterschied formuliert sie das so:
Es sprach zum Mister Goodwill
Ein deutscher Emigrant:
„Gewiß, es bleibt das selbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiß, ich bin sehr happy:
Doch glücklich bin ich nicht.“
1960 wandert Mascha Kaléko ihrem Mann zuliebe mit ihm nach Jerusalem aus. Dieses Jerusalem, von dem die Bibel als Himmels- und Friedensmodell schwärmt, die „heilige Stadt“, das „himmlische Jerusalem“ wird Mascha nie zur Heimat; nicht deshalb nicht, weil hier seit über 3000 Jahren immer wieder scheinbar vergeblich um Frieden gerungen wird, auch nicht, weil diese Pilgerstätte so oft zum Pulverfass mutiert und so das zarte Fünkchen Hoffnung in dieser Sehnsuchtslandschaft gefährdet, sondern deshalb nicht, weil Mascha Kaléko hier einsam und enttäuscht lebt und nach dem Tod ihres Mannes noch mehr unter der sprachlichen und kulturellen Isolation leidet. Immer wieder und im Herbst 1974 ein letztes Mal besucht sie Berlin, die Stadt ihrer Jugend, und denkt dabei darüber nach, sich dort neben ihrem Domizil in Jerusalem eine Wohnung zu nehmen. Auf dem Weg zurück nach Jerusalem stirbt sie am 21. Jänner 1975 in Zürich und findet dort ihre letzte Ruhestätte, am jüdischen Friedhof Oberer Friesenberg am Fuß des Uetliberges in der Friesenbergstraße 330. Die kargen Daten ihres Grabsteins verraten neben ihrem Namen und den Jahreszahlen ihrer Geburt und ihres Todes nur noch, dass sie Dichterin war und die Gattin des Musikologen Chemjo Vinaver.
Eines ihrer Gedichte trägt den Titel „Heimweh, wonach?“
„Wenn ich „Heimweh“ sage, sag ich „Traum“.
Denn die alte Heimat gibt es kaum.
Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel:
Was uns lange drückte im Exil.
Fremde sind wir nun im Heimatort.
Nur das „Weh“, es blieb.
Das „Heim“ ist fort.“
aus: Mascha Kaléko, Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte
München, dtv, 16. Aufl. 2015