Hat Europa noch eine Chance?

Dunkle Wolken über der europäischen Finanzmetropole Frankfurt am Main. Aber Geld allein wird Europa ohnedies nicht retten. ©CC-BY-SA-4.0/ROLAND PUSKARIC

Von Hedi Schneid

Fast die Hälfte der Weltbevölkerung ist in diesem Jahr zu den Wahlurnen gerufen.  Über 70 Wahlgänge stehen an: Taiwan hat den Anfang gemacht, mit Indien folgt das bevölkerungsreichste Land der Erde als einer der wichtigsten wirtschaftlichen Aufsteiger. Das größte Interesse richtet sich zweifelsohne auf die Wahlen in den USA, aber auch die Urnengänge in einigen europäischen Ländern, darunter Österreich, sowie die EU-Wahlen garantieren Aufmerksamkeit. 

Es geht es um mehr als um neue Gesichter an den Schalthebeln der Macht. Es könnte eine neue Weltordnung entstehen, die nicht nur den Fortgang der Kriege in der Ukraine und in Nahost wesentlich beeinflussen dürfte, sondern auch die Entwicklung geopolitischer Spannungen in anderen Weltregionen wie Nordkorea und Taiwan.

Politik braucht allerdings eine starke Wirtschaft im Rücken, will sie schlagkräftig und effizient sein, Reformen anstoßen, Megatrends setzen und Krisen bewältigen. Das war schon in der Antike so und gilt umso mehr für das 21. Jahrhundert. Die Frage lautet daher: Wie gut sind die großen Wirtschaftsblöcke dies- und jenseits des Atlantiks aufgestellt – auch angesichts der Supermacht China?

Schwächelnder Riese

 Noch in den 1980er Jahren lag die EU in der Wirtschaftsleistung, gemessen am globalen Bruttoinlandsprodukt, mit rund 25 Prozent vor den USA, die damals auf 21 Prozent kamen. In den folgenden Jahren verloren beide Blöcke im Gleichschritt an Gewicht, Europa allerdings mehr. Der Anteil der EU (inzwischen ohne Großbritannien) liegt nun bei 14,4 Prozent, während der der USA ein Prozent mehr beträgt. Der Gewinner ist China mit nunmehr knapp 20 Prozent. In absoluten Zahlen ist der Abstand noch größer: 2008, im Jahr der weltweiten Finanzkrise, lag die Volkswirtschaft der EU mit 16,2 Billionen Dollar vor den USA, die 14,7 Billionen erwirtschafteten. Bis 2022 sind die USA auf 25 Billionen gewachsen, während die EU (inklusive Großbritannien) auf 19,8 Billionen kam. Die US-Wirtschaft ist also um ein Drittel größer als jene der EU.

„Europa verarmt“, formulierte das Wall Street Journal. Eine journalistische Übertreibung? Ja und nein. Zwar punktet Europa bei vielen Menschen mit hoher Lebensqualität, guten Arbeitsbedingungen und sozialen Standards – und diese messen sich nicht ausschließlich am BIP. Wenn jedoch die Wirtschaft schwächelt, dann sind diese Werte in Gefahr. Und in diesem Punkt sind sich die meisten Ökonomen einig: Europa gibt im globalen Spiel der Wirtschaftsmächte längst nicht mehr den Ton an, ob in der Industrie, der Wissenschaft oder im Energiesektor. Und schon gar im Finanzwesen.       

Die Gründe sind vielfältig und reichen zum Teil weit zurück. Manche Ursachen sich hausgemacht, aber natürlich spielen externe Faktoren wie nun der Ukrainekrieg und der Nahostkonflikt eine große Rolle. Die Finanzkrise 2008 ist ein gutes Beispiel: Sie nahm zwar mit der Pleite der Bank Lehman Brothers in den USA ihren Ausgang, doch die Vereinigten Staaten überwanden den Schock viel rascher, weil wichtige Maßnahmen wie die Schließung maroder Finanzinstitute und eine schärfere Bankenregulierung zügig umgesetzt wurden. Europa brauchte hingegen drei Jahre, bis die Bankenaufsichtsbehörde ihre Arbeit aufnahm.

Europas sprachliche und kulturelle Vielfalt wird oft als Stärke gesehen. Doch die Zersplitterung bei Gesetzen und Regelungen sowie die in Brüssel von den jeweiligen Politikern durchaus massiv ausgespielten nationalen Eigeninteressen bremsen oder verhindern rasche Entscheidungen. Die EU steht sich mit komplizierten Entscheidungsstrukturen – Kritiker sprechen von einem Bürokratiemonster – oft selbst im Weg. „Europa verliert sich im Kleingedruckten, die großen Fragen bleiben ungelöst“, konstatierte Franz Schellhorn, Chef des wirtschaftsliberalen Thinktanks Agenda Austria, in der Presse. Europa lockt mit seiner vielfältigen Kultur und Landschaft alljährlich Millionen von Touristen an, und tatsächlich ist der Fremdenverkehr zweifelsohne ein großer Wirtschaftsfaktor, doch der Tourismus kann die Gefahr der Deindustrialisierung nicht wettmachen.

Schlechtes Ranking

Doch auch die USA kämpfen mit vielen Schattenseiten, etwa mit einem mangelhaften Gesundheitssystem. Dazu kommt die seit Jahren wachsende politische Spaltung, in der Beobachter eine erstzunehmende Gefahr für die Demokratie sehen. Aber die Wirtschaft floriert, quasi abgekoppelt von den Problemen, und die Börsen eilen von einem Rekordhoch zum nächsten. Die seit jeher liberale Haltung, der hohe Wert des Unternehmertums, rasche Entscheidungswege sowie die Einstellung, Krisen weniger zu bejammern, sondern selbst zu meistern, machen die USA nach wie vor zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Natürlich spielen der riesige Binnenmarkt (den allerdings auch Europa hat), enorme Ressourcen an Energie und Bodenschätzen sowie große landwirtschaftliche Flächen ebenfalls eine Rolle.

Die Schwäche Europas lässt sich an der Position der großen Industriekonzerne im internationalen Umfeld ablesen. Das jüngste, zum Jahreswechsel erschienene Ranking der renommierten Beratungsgesellschaft EY fällt nicht gerade berauschend für Europa aus: Während die USA 62 der 100 wertvollsten Unternehmen weltweit stellt, schafften es nur 19 europäische Konzerne in diesen erlauchten Kreis. Zum Vergleich: 2007 hatten noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen ihren Sitz in Europa und nur 32 in den USA. Unter den Top Ten befindet sich überhaupt kein europäisches Unternehmen mehr, jedoch stammen neun aus den USA. „Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen dramatischen Bedeutungsverlust Europas gesehen“, lautet denn auch die Diagnose von Gunther Reimoser, Country Managing Partner von EY Österreich.

Auffallend ist die Dominanz der Techkonzerne Apple, Amazon, Microsoft, der Google-Mutter Alphabet, Meta (Facebook), des Grafikkarten-Spezialisten Nvidia und des E-Autoherstellers Tesla. Da kommt in Europa höchstens noch SAP mit. Die „Glorreichen Sieben“, wie die Tech-Riesen im Börsenjargon genannt werden, sind echte Vorbilder für Wirtschaftsunternehmen „Made in USA“. Zuerst stand eine Idee, geboren von ein paar Studenten, ambitionierten Freaks, die an ihren Plan glaubten. Das Startup war geboren – und die Investoren sprangen auf. Apropos Startups: das einzige Land, das Firmen-Newcomern einen gleich guten Nährboden bietet und mit den USA mithalten kann, ist Israel. Da kommt Europa nicht annähernd mit.

Die einstigen Zwerge, die nun Riesen sind, zeichnet eine weitere Eigenschaft aus: Stillstand gibt es nicht. Deshalb rüsten sie auf die nächste Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz auf und haben erneut die Nase vorn. Warum mangelt es in Europa an solchen Erfolgsgeschichten? Hört man Firmengründern zu, zeigen sich rasch die größten Hürden: Während es an Vorschriften, Prüfungen und Gesetzen, die jungen Firmen das Leben erschweren, nicht mangelt, fehlt oft das Geld. Da sind in den USA zum einen die Elite-Universitäten, die viel Geld in Startups pumpen. Zum anderen haben private Investoren einen hohen Stellenwert, was auch mit den steuerlichen Absetzmöglichkeiten zusammenhängt. Und nicht zuletzt sind die US-Börsen der weltweit größte Finanzplatz. Während zwei Drittel der US-Amerikaner Aktien besitzen, sind es in Europa – länderspezifisch unterschiedlich – vielleicht ein Viertel. Statt den Besitz von Wertpapieren auch im Hinblick auf die Altersvorsorge auch steuerlich zu fördern, werden Aktienbesitzer hierzulande oft als Spekulanten scheel angesehen.

Bürokratische Fallstricke

Auch die einstige Stärke europäischer Unternehmen im Export erweist sich nun als Bumerang. Denn die neuerliche Gefährdung der Lieferketten durch die Blockade der Straße von Hormus und die langsamer wachsende Wirtschaft Chinas schmälern die Gewinne. Immerhin hängt rund die Hälfte des BIP der Eurozone an Unternehmen, die ihre Produkte und Dienstleistungen im Ausland verkaufen. In den USA sind es nur rund zehn Prozent. Eine große Belastung ist zudem die Energieabhängigkeit Europas von Russland. Während Europa mit der Energiewende kämpft, sind die USA dank des Frackings energieautark. Fracking ist umstritten und in Europa weitgehend verboten, obwohl moderne Verfahren entwickelt werden, die umweltschonende Technologien ermöglichen.

Noch ein Aspekt ist nicht zu unterschätzen: Die von der lockeren Geldpolitik der Notenbanken und dann dem Ukrainekrieg befeuerte Inflation ist in den USA wieder stärker gefallen als in Europa. Das ist dem Umstand geschuldet, dass die US-Notenbank Federal Reserve deutlich früher als die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöht hat. 

Man kann allerdings Brüssel nicht den Vorwurf machen, nicht viel Geld in die Hand zu nehmen, um Europas Schwächen auszumerzen. Allein der 2020 auf den Weg gebrachte „Green Deal“, der den Kontinent bis 2050 klimaneutral machen und grüne Technologien und Industrien ankurbeln soll, sieht Investitionen von einer Billion Euro vor. Das ist aber noch nicht alles: Nachdem US-Präsident Joe Biden daraufhin mit dem „Inflation Act“ im Volumen von einer halben Billion Dollar konterte, mit dem ebenfalls umweltschonende Industrien und Innovationen gefördert werden, setzte die EU mit dem „Industrieplan für den Green Deal“ noch eins drauf. Letzterer ist aber erst in Ausarbeitung, und der „Green Deal“ wird von den Fallstricken des Bürokratiedschungels ausgebremst.

Geld allein, da sind die Ökonomen einig, wird Europa ohnedies nicht aus dem Tief holen. Vielmehr bedarf es eines Umdenkens, einer großräumigen Entschlackung verkrusteter Strukturen. Der schon in die Jahre gekommene Slogan „Geht nicht, gibt’s nicht“ gilt mehr denn je.

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