Die Redaktion von NU trauert um Hans Menasse. Immer wieder durften wir seit der Gründung dieser Zeitschrift über ihn berichten, zuletzt im Zusammenhang mit der Ausstellung „Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien“ im Jüdischen Museum Wien.
VON DANIELLE SPERA
Für Hans Menasse, geboren in Wien als Sohn eines Handelsvertreters für Pelze und Spirituosen, spielte Religion erst nach dem „Anschluss“ eine Rolle, als seine Kindheit abrupt endete. Hans und sein älterer Bruder Kurt konnten mit Hilfe der Quäker in einem der Kindertransporte nach London fliehen, wurden aber unmittelbar nach ihrer Ankunft getrennt, da Hans an Scharlach erkrankte. Mit acht Jahren war er plötzlich völlig allein in diesem fremden Land, ohne ein Wort Englisch zu sprechen. Doch er lernte rasch – und verlernte gleichzeitig Deutsch, weil niemand mehr da war, mit dem er seine Muttersprache praktizieren hätte können. Mit zehn Jahren wurde er für ein Fußballteam rekrutiert – der Beginn seiner Sportlerkarriere. Währenddessen meldete sich sein Bruder Kurt zur britischen Armee; die ältere Schwester hatte sich nach Kanada durchgeschlagen und starb dort im Alter von 21 Jahren an Typhus.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt Hans, der in England zum technischen Zeichner ausgebildet worden war, einen Brief aus Wien – auf Deutsch –, den er sich erst übersetzen lassen musste. So erfuhr er, dass seine Eltern die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hatten. Im April 1947 kam er nach Wien zurück. „Ich war acht Jahre alt, als ich aus Wien gefahren bin. Als ich zurückkam, war ich 17 und von einem Kind zu einem jungen Mann geworden. Meine Eltern hätte ich nicht mehr erkannt, aber mein Bruder ist neben ihnen gestanden, als ich angekommen bin. Ihn habe ich erkannt, er stand dort in der englischen Uniform. Meine Eltern sind auf mich zugekommen und haben mich umarmt und geküsst. Sie waren mir zu Beginn ein bisschen fremd, noch dazu, wo ich nicht mit ihnen reden konnte. Ich konnte nicht Deutsch und sie konnten nicht Englisch. Mein Bruder hat ab und zu übersetzt, aber er musste bald zurück zu seiner Einheit, und ich war dann alleine mit den Eltern“, erzählte Hans Menasse, der in Wien als Leiter der Presseabteilung eines großen Filmverleihs mehr als 50 Jahre lang wichtige Persönlichkeiten aus dem Filmbusiness betreute. Gleichzeitig wurde er beim Fußballclub Vienna zum gefeierten Star.
Ich durfte Hans Menasse schon früh kennenlernen, da sein Bruder Kurt und mein Vater (er hieß auch Kurt) beruflich viel miteinander zu tun hatten. Ich bin unendlich dankbar für die vielen spannenden Gespräche. Seine liebenswürdige Art, seine Aufmerksamkeit und seine Gabe zu erzählen werden mir sehr fehlen. Mein ganzes Mitgefühl gilt seiner Familie.
Am meisten in den Bann gezogen hat mich seine Rede anlässlich der Ausstellung über die Kindertransporte am 9. November 2021: „Es ist unfassbare 83 Jahre her, als ich mit meinem älteren Bruder am Wiener Westbahnhof von meinen Eltern und von meiner Geburtsstadt Wien Abschied nehmen musste, um mit einem Kindertransport nach England zu fahren. Seither hat man mich hunderte Male gefragt, wie ich über dieses traumatische Erlebnis hinweggekommen bin, was es aus mir gemacht, was es bedeutet hat. Vielleicht war ich einer der wenigen halbwegs Glücklichen, denen es nicht so viel gemacht hat, weil ich mit meinem älteren Bruder gefahren bin. Und weil meine Eltern gesagt haben: ‚Du fährst jetzt nach England, wirst sehen, es ist lustig. Das ist wie ein Abenteuer. Es ist ein Urlaub und wir kommen sowieso bald nach.‘ Natürlich glaubt man als achtjähriges Kind seinen Eltern. Ich habe aber gleichzeitig auch gesehen, dass am Bahnhof einige andere Kinder gebrüllt und getobt haben.
Es muss für meine Eltern viel, viel ärger gewesen sein als für mich. Denn sie haben buchstäblich von einem Tag auf den anderen drei Kinder verloren. Meine Eltern wussten von keinem ihrer drei Kinder, wie es ihnen geht, was sie machen. Als ich später selbst Kinder hatte und mein erstes Kind acht Jahre alt wurde, dachte ich: ‚Kannst du dir vorstellen, dass du dein Kind jetzt wegschicken musst und du weißt jahrelang nicht, wie es ihm geht?‘ Unvorstellbar!
Ich möchte noch einen Aspekt erwähnen, der kaum zur Sprache kommt. Als ich im Dezember 1938 vom Westbahnhof weggefahren bin, haben mich meine Eltern natürlich abgebusselt, an sich gedrückt, über den Kopf gestreichelt, mir verschiedene andere Zeichen von Zärtlichkeit gegeben. Das Unfassbare ist, dass ich danach achteinhalb Jahre lang kein einziges Busserl bekommen habe. Wenn man später gesagt hat, man habe uns unsere Jugend geraubt, dann kann nur das gemeint sein. Wir konnten in die Schule gehen, wir konnten mit anderen Kindern spielen, wir hatten zu essen und zu trinken. Wir waren in Sicherheit. Aber ein achtjähriges Kind, das achteinhalb Jahre nicht ein einziges Zeichen von Zärtlichkeit erfährt, das kann man sich nicht vorstellen. Was das aus mir gemacht hat, weiß ich nicht so genau. Ich weiß nur, dass ich danach angefangen habe, Nägel zu beißen, dass ich schüchtern geworden bin, fast introvertiert, dass ich, wenn man mich angesprochen hat, rot angelaufen bin. Dafür habe ich mich dann wieder geschämt. Aber das hat sich alles Gott sei Dank mit der Zeit wieder gegeben. Bis auf das Nägelbeißen. Das habe ich sogar meinen Kindern vererbt …“
Wenn Sie mehr über das Leben von Hans Menasse wissen wollen:
Alexander Juraske/Agnes Meisinger/Peter Menasse,
Hans Menasse: The Austrian Boy. Ein Leben zwischen Wien, London und Hollywood,
Wien 2019.