Kommentar von Martin Engelberg
Bei meiner jüngsten Reise nach Israel überschattete eine Frage alle Gespräche: Befindet sich Israel durch das Agieren der neuen Regierung in der größten Krise seit Bestehen des Landes? Mit großer Verve warnten israelische Gesprächspartner der Linken, aber auch des Zentrums, vor dem Ende der Demokratie und des Rechtsstaates, vor der endgültigen Machtübernahme durch machtgeile und zugleich staatspolitisch unerfahrene Rechtsextremisten. Provokateure wären es, die jede Friedensperspektive zerstörten, gepaart mit Orthodoxen, welche ihre finanziellen Forderungen durchsetzten und allen anderen Juden und Jüdinnen ihre religiös-fundamentalistischen Ansichten aufoktroyierten. Allesamt angeführt schließlich von einem Premierminister, dem es einzig und allein um seine persönlichen Bedürfnisse ginge, insbesondere die Einstellung der Verfahren gegen ihn.
Allerdings hat sich die Opposition wohl eine Reihe von Fehlern selbst zuzuschreiben: Erstens, die Wahlen verloren zu haben, welche durch und durch demokratisch abgelaufen sind – im Gegensatz zum Beispiel zu jenen in Ungarn. Die Wahl verloren, nicht zuletzt aus dem eigenen, schon fast traditionellen Unvermögen der linken sowie auch der arabischen Listen, sich so zusammenzuschließen, wie es die Rechte tat. So gingen wertvolle und entscheidende Stimmen durch Listen verloren, die den Einzug in die Knesset dann nicht schafften.
Der zweite Fehler war, sich auf lediglich einen programmatischen Punkt zu reduzieren: „Rak lo Bibi!“ – „Nur nicht Netanjahu!“ Dieser gemeinsame Schwur hat wohl den Zentrumsparteien von Benny Gantz und Jair Lapid schon bei den Wahlen geschadet und Netanjahu Wähler zugetrieben. Drittens hat sich die „vernünftige Mitte“ durch dieses Gelöbnis dann auch noch bei den Koalitionsverhandlungen gelähmt und sich selbst aus dem Spiel genommen. Denn schließlich hatte eine Mehrheit der Israelis durch ihre Wahl bestimmt, dass Netanjahu wieder Premierminister werden solle. In vollem Bewusstsein der Verfahren, die gegen ihn laufen und der rechtsextremen und religiös-orthodoxen Partner, mit denen er sich zusammentun würde, da sich eben die anderen Parteien einer Zusammenarbeit mit Bibi verweigerten. Schließlich, nicht zu vergessen, gibt es heute in Israel eine deutliche Mehrheit rechts der Mitte, des „jüdischen“ Israels, welche die Sicherheit und Stärke Israels als oberste Priorität sieht, hinsichtlich einer Lösung mit den Palästinensern sehr skeptisch ist und den Charakter Israels als jüdischen Staat erhalten möchte.
Vor allem die grundlegende Reform des Justizsystems, aber insbesondere der doch recht speziellen Machtposition des Obersten Gerichtshofes, erhitzte die Gemüter zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels besonders. Verärgert hat die Rechte insbesondere der große Entscheidungsspielraum, den sich die Oberrichter immer wieder angemaßt haben angesichts der Nicht-Existenz einer Verfassung und eines „Gummiparagraphen“. Dieser gibt dem OGH die Möglichkeit, aufgrund des Tatbestandes eines vom Gericht ausgemachten „unangemessenen Verhaltens“ Urteile zu fällen. Bis hin zum Ausschluss eines Ministers und auch des Premierministers von seinem Amt.
Die eingeleitete Justizreform trieb zehntausende Demonstranten auf Israels Straßen. Sie fürchten die Entmachtung des Obersten Gerichtshofes – für sie Hüter der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Israel. Zuletzt schaltete sich auch wiederholt der israelische Präsident Isaac Herzog ein, warnte vor einem „verfassungsrechtlichen und sozialen Zusammenbruch“ des Landes, forderte die Regierung und Opposition zu Verhandlungen auf und legte selbst einen Kompromissplan zu den strittigen Punkten vor.
Steht also Israel, im Jahr seines 75. Geburtstages, tatsächlich vor einer historischen Weggabelung, vor einer noch nie dagewesenen Krise? Man erinnert sich vielmehr an so manche politische Situation in Israel, bei der Ähnliches behauptet wurde: Zum Beispiel, als Menachem Begin 1977 erstmals die Wahlen gewann und von der bis dahin alles dominierenden Arbeiterpartei das Ruder übernahm. Begin sei ein berüchtigter Terrorist gewesen, er würde Israel in den Faschismus führen. Als Ariel „Arik“ Scharon im Jahr 2001 Premierminister wurde, fürchteten viele Israelis, das Land würde unter seiner Führung in Schlachten und Kriegen untergehen.
So sollte man optimistisch bleiben, dass Israel schließlich auch diese Krise meistern und weiterhin der einzige demokratische und rechtsstaatliche Leuchtturm des Nahen Ostens bleiben wird.