Jüdisches Leben im Baltikum, Straßenbilder aus Pittsburgh und eine politische Biografie: drei Leseempfehlungen.
Wider das Vergessen
Verwunschen, verwunschen … wie „verstreute Erinnerungen an eine ungewisse Zukunft“. Verwunschen wie versunken scheint die Welt der jüdischen Gemeinden in Europa. Aber es existieren zahlreiche Relikte, Reste, Memorabilia; auf Fassaden, Wegweisern, Straßenschluchten, in Dörfern und auf Friedhöfen. Seit den 1990er Jahren hat der Kölner Fotograf Christian Herrmann Osteuropa bereist, auf der Suche nach Spuren jüdischer Vergangenheit und Gegenwart. Im Finden des Endlichen einerseits und des Alltäglichen andererseits ersteht aus seinen Fotoserien eine neue Wahrnehmung einer verloren geglaubten Welt. Die mahnende Erinnerung an die Verbrechen des Nazi-Regimes und die Opfer des Holocaust hat eine Vielzahl unterschiedlichster Denkmäler hervorgebracht. Manche nutzen Grabsteine und Fragmente von zerstörten jüdischen Friedhöfen. Sie verleihen den „Matzewa“, die keinen Gräbern mehr zugeordnet werden können, einen neuen Sinn. Herrmann dokumentiert in Grenzland Spuren jüdischen Lebens in den baltischen Staaten, Polen, Belarus, Moldau, in der Ukraine. Gemein ist all diesen Ländern eine Geschichte imperialer Unterdrückung, des Strebens nach Unabhängigkeit. Die jüdische Bevölkerung erfuhr zusätzlich spezielle Ausformungen der Rechte und des Unrechts. All den Pogromen, antisemitischen Vorurteilen und Verbrechen zum Trotz hat jüdisches Leben überdauert, zeigt Christian Herrmann. In Herrmanns Dokumentation finden sich Reste der alten Schtetln, Mauern von Synagogen, Schriften, Plakate, Ephemera. Und unerwartet entsteht aus den leeren Erinnerungsräumen neues jüdisches Leben. So zum Beispiel erzählt der Chronist davon, dass Orte wie die Grabstätte von Rabbi Nachman im ukrainischen Uman zu Pilgerstädten der Chassidim mutierten. Erinnerung als Pfad in die Zukunft. Möge der Wunsch gelten: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ (Gregor Auenhammer)
Christian Herrmann
Grenzland. Borderlands. Jüdische Spuren im Osten Europas
Lukas Verlag, Berlin
220 S., EUR 42,–
Großstadtgefüster
„Es gefällt mir, Dinge zu nehmen, die sehr gewöhnlich sind, und etwas in ihnen zu finden.“ Dieser Satz sagt eigentlich schon alles aus über die Gedankenwelt des US-Künstlers Saul Leiter. „Keine großartigen Himmel, keine majästetischen Berge oder Flüsse, keine Palmen und Mammutbäume von diesem urbanen Wanderer“, sollte Philipe Laumont bei Saul Leiters Gedenkfeier feststellen. „Stattdessen intime Szenen, meist im Freien, die in dieser East-Village-Umgebung nur darauf warteten, vom flinken und poetischen Auge eines Fotografen gesehen zu werden.“
Saul Leiter (1923-2013) hätte eigentlich wie sein Vater Rabbi werden sollen, war aber ab dem Tag seiner Bar Mizwa vom Virus der Fotokunst infiziert, nachdem er seine erste Kamera, eine Detrola geschenkt bekam, verließ mit 23 seine Heimatstadt Pittsburgh und ging nach New York, um Fotograf zu werden. Er startete persönlich motiviert mit Akten und Street Photography. Im Lauf der Jahrzehnte arbeitete er für die Modebranche, aber auch für Zeitschriften wie Esquire und Harpers Bazaar. Großteils in Schwarzweiß. Seine Leidenschaft aber galt der Farbe. „Zeichnen war wichtig, Form war wichtig, Farbe war oftmals suspekt“, reflektierte er die Sichtweise in der Kunstgeschichte, vor allem der Fotogeschichte. Leiter war Teil einer Avantgarde in Greenwich Village, fusionierte Schaukästen mit Gemälden und Diaprojektionen. 1957 zeigte Edward Steichen im MoMA Leiters “early colour”, aber erst in den 1990er-Jahren erfuhr seine Fotografie Wertschätzung. 1993 fand die erste Personale in New York statt.
Seine Farbdias aus den 50er und 60ern blieben „unseen“, bis sie, posthum exhumiert, nun der Öffentlichkeit vor Augen gelegt werden. Die Publikation “Unseen Saul Leiter” zeigt den Alltag in New York, zwischen 1948 und 1966, jenseits großer Routen. Regen, Verkehr, kein hektisches Treiben: 76 bisher unveröffentlichte Arbeiten aus Saul Leiters reichem Archiv von Farbdias. Saul Leiter, der heute als einer der weltweit größten Fotografen und Pionier der Farbfotografie gilt, war bis in seine frühen Achtziger relativ unbekannt. Erst seit Kuratoren und Kritiker ihn vor zwei Jahrzehnten neu entdeckten, erfährt sein Werk die gebührende Wertschätzung. In strahlenden Farben gaben Leiters Bilder den Lebensrhythmus in den Straßen New Yorks der 1950er- und 60er Jahre wieder, während seine Zeitgenossen noch in Schwarzweiß fotografierten. Seine komplexen und impressionistisch anmutenden Fotografien halten sowohl eine Stimmung als auch den berühmten entscheidenden Moment fest.
Bei seinem Tod hinterließ er eine Sammlung von mehr als 40.000 Farbdias, von denen nur ein Bruchteil je das Tageslicht erblickt hatte. Schon seit 1946, weit vor den Vertretern der New Color Photography der 1970er Jahre wie William Eggleston und Stephen Shore, benutzte er als einer der ersten die damals von Künstlern verachtete Farbfotografie für seine freien künstlerischen Aufnahmen. In seinen Arbeiten fließen die Genres der Street-, Life-, Porträt-, Mode- und Architekturfotografie zusammen. Margit Erb, seine ehemalige Assistentin, und Michael Parillo, Nachlassverwalter des regen Schaffens, sichteten in seinem Atelier im New Yorker East Village. Seine Motive; Schaufenster, Passanten, Autos, Schilder, Regentropfen, Pfützen, und immer wieder Regenschirme fand er in der unmittelbaren Umgebung seiner New Yorker Wohnung. Für den sensiblen Seismographen, der oft in Collagen Fotografie mit Malerei fusionierte, bedeutete Farbe eine Art „Lebenselixier“. (Gregor Auenhammer)
Margit Erb, Michael Parillo (Hg.)
Unseen Saul Leiter
Kehrer Verlag, Heidelberg/Berlin
160 S., EUR 39,90
Beste Tradition
Wie ist es, als Jude in Österreich nach der Schoa aufgewachsen zu sein? Schon allein die Beschreibung dieser Situation wird viele Menschen interessieren, zumal Martin Engelberg in einer sehr traditionell-jüdischen Familie aufgewachsen ist, öffentliche Schulen besuchte, aber zum Beispiel am Samstag nicht zur Schule ging. Auch die biografische Beschreibung der Familie hilft, sich ein Bild über die Szenerie zu machen. Martin Engelberg schon mehr als 50 Jahre kennend, haben mir beim Lesen des Buches die Parallelen unserer beiden Lebensgeschichten eine zusätzliche Dimension vermittelt. Gleich beim Eintauchen in das Buch ist mir aufgefallen, wie ähnlich unsere Kindheit verlaufen ist, das Jüdisch-Sein im Nachkriegsösterreich: Unsere Eltern wollten sich nach dem Schrecken des Holocaust eine neue Existenz in Wien aufbauen, wollten für die Kinder das Beste, eine schöne, unbeschwerte Kindheit und eine Zukunft.
Martin Engelberg leitet dann über zu einer Beschreibung des Jüdisch-Seins und einer tiefgründigen Betrachtung, wie denn eine jüdische Identität zu definieren ist. Die Tatsache, dass Engelberg Psychoanalytiker ist, gibt seinen Überlegungen eine zusätzliche Dimension. In bester jüdischer Tradition würzt er seine Analysen mit Anekdoten, Weisheiten und Humor.
Es folgt ein detailgetreuer Streifzug durch 50 Jahre österreichische Politik, der einen ausgezeichneten Überblick über wichtige Episoden österreichischer Zeitgeschichte bietet und wohl manchen Lesern Informationen und Sichtweisen bietet, die er bisher noch nicht kannte. Es ist eine Darstellung der politischen Geschichte Österreichs aus der Sicht eines jüdischen politischen Menschen, die es noch interessanter macht. So zum Beispiel die „Nicht-Auseinandersetzung“ Österreichs mit der Nazizeit bis zur Affäre Waldheim, dann die Wandlung, die, beginnend mit der Reise von Franz Vranitzky nach Israel und seiner berühmten Rede vor der Hebräischen Universität, begann.
Ein Kapitel des Buches ist dabei der Wahl von Bruno Kreisky zum Bundeskanzler im Jahr 1970 gewidmet. Auch hier Parallelen zu meiner Familie und zu viele Juden Wiens: Am Anfang waren wir alle begeistert, „ein Jude wird Bundeskanzler“. Aber schnell drehte sich diese Begeisterung und wandelte sich zu einer tiefen Enttäuschung: Kreisky ließ sich mit der Unterstützung der FPÖ zum Bundeskanzler machen, er machte ehemalige Nazis zu Regierungsmitgliedern, stellte sich gegen die Anklagen Simon Wiesenthals an die Seite des früheren SS-Manns Friedrich Peter und machte obendrein auch noch den PLO-Chef Yassir Arafat hoffähig. Das war eine große Enttäuschung für uns alle. Andererseits waren wir Juden doch auch sehr angetan davon, wie Bruno Kreisky Österreich modernisiert hat.
Auch der Bezugspunkt zum Staat Israel ist sehr treffend beschrieben. Für viele Überlebende des Holocaust und deren Kinder und Enkelkinder ist der Staat Israel unser sicherer Hafen und die Unterstützung in jeder Beziehung grenzenlos. Viele Kinder von Wiener Holocaust-Überlebenden gingen nach Israel und haben sich dort eine Existenz aufgebaut.
Seit einigen Jahren ist Martin Engelberg auch Mitglied des Nationalrates – der erste bekennende Jude in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Kapitel schreibt er die Erfahrungen als Jude in der österreichischen Politik, eine Definition seiner politischen Ziele und Inhalte. Diese Biografie ist sicher nicht zu Ende, und so wird sicher in den nächsten Jahren noch ein Ergänzungsband erscheinen müssen. (René Wachtel)
Martin Engelberg
Absolut Jüdisch
Verlag Buchschmiede
300 S., EUR 25,–