Kennengelernt habe ich Christine de Grancy bei einer Pressekonferenz gegen Rassismus vor ziemlich genau zehn Jahren. Seither treffen wir uns gelegentlich, meist bei Eröffnungen von Ausstellungen ihrer Fotos, und wundern uns, warum wir uns nicht öfter sehen.
VON PETER WEINBERGER (TEXT)
UND HOLGER R. WEIMANN (FOTOS)
So auch dieses Mal, als Christine mich anrief und mich zu einer Privatführung durch ihre zurzeit laufende Ausstellung Transit. Die Iraner in Wien im Jüdischen Museum der Stadt Wien einlud – eine Ausstellung, die der stillen Emigration von iranischen Juden über Wien in die USA in den Jahren 1991–1993 (Entstehungszeit der Fotos) gewidmet ist.
Genau vor dem Jüdischen Museum beginnt unsere Fahrt, selbstverständlich mit dem Fahrrad, zum jenem Ort, wo die gezeigten Fotos entstanden sind, nämlich zur „Schiffschul“ in der großen Schiffgasse Nr. 8, in der die Iraner für eine Zeitlang eine Bleibe gefunden hatten.
Getroffen haben wir uns allerdings bereits einige Zeit davor, um unseren Ausflug in den zweiten Bezirk zu diskutieren, vor allem aber, um noch einmal über die Motivation von Christine de Grancy zu sprechen, sich als Nichtjüdin derart intensiv mit jüdischen Themen auseinanderzusetzen – natürlich auch, wie sehr ihre eigene Familiengeschichte dazu beitrug.
„Die Familie wirkt unbedingt und immer in unser aller Leben hinein. Wir können sie uns nicht aussuchen. Früh wurde mir das bewusst. Schon der Familienname hat das bewirkt. Ablehnung oder seltsames Erstaunen. Woher kommt der Name? Wie kamen wir hierher? 1946 die Flucht aus Deutschland, zur Mutter unseres Vaters, nach Graz. Wir Protestanten in das katholische Land. Und Graz, wie ich später begreifen sollte, so überaus braun gefärbt. Mein Jugendfreund Sebastian Bilger sprach viel von seiner jüdisch-französischen Mutter, die ihn nicht bei sich in München aufziehen konnte. Sein Vater Ferdinand Bilger, der Kommunist und Maler war und im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, eröffnete uns jungen Menschen in seinem Grazer Atelier neue Welten. Das weckte den Wunsch, Grenzen zu überwinden und sich von dieser Welt eigene Bilder machen zu dürfen. Die Enge, die uns in den Köpfen und Herzen der vielen verbitterten Erwachsenen umgab, war spürbar. Fragen wurden oft brüsk zurückgewiesen und damit erstickt. Die Brüche in den Familien, wie auch in der Gesellschaft, wurden erkennbar. Noch wurden Erklärungen schwer gefunden.
Der Vater fiel drei Wochen vor Kriegsende in der Lüneburger Heide. Wir waren wenige Kilometer entfernt in einem Gutshof untergebracht, gerade aus dem brennenden Berlin evakuiert. Erst als ich 16 war, erzählte die Mutter vom Freitod ihres Vaters, der dem Widerstands- Kreis vom General Ludwig Beck und dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler angehört hatte. Sie waren beteiligt an Planungen um das Attentat gegen Adolf Hitler am 20. Juli 1944 in Berlin. Zwei Tage danach entzog er sich der Gestapo, die vor seiner Haustür stand, wohl um Verhören unter Folter zu entkommen, und sprang aus dem zweiten Stock seines Wohnhauses. 1960 lud der Staat Israel die Kinder und Enkel dieser Widerstandskämpfer zu einem Besuch ein. Die Gedenkstätte Yad Vashem war damals im Entstehen.
Wesentlich hat mich in Kindertagen ein unvergesslicher Satz unserer Weißnäherin Frau Meier geprägt. Ich erzählte gern. Plötzlich unterbrach sie mich: ,Fuchtel nicht wie ein Jud.‘ Die alte pedantische Frau war mir nie sympathisch. Nun hatte sie restlos ausgespielt. Sie wollte meine Lebhaftigkeit beschneiden, dazu brauchte ich nun einmal meine Hände. Ich fuchtelte weiter mit den Händen – und Juden, die ich noch nicht kannte, waren mir sofort sympathisch. Man möge mir verzeihen, ich konnte nur Philosemitin werden.
Die ,Unfähigkeit zu trauern‘ war keine Erklärung, wies aber auf etwas hin, was wir in dieser Form nach und nach begreifen mussten: Wir waren in irgendeiner Form auch Opfer geworden. Mit ihrer Scham und Schande, die auch an uns haftete, musste man leben lernen. Wie konnte man diese Menschen lieben, achten und ehren?“
„Angst vor den Fluchtwellen“
Da ich vor einiger Zeit in einer anderen Ausstellung einige ihrer Bilder gesehen habe, die von Minderheiten eindringlich sprechen, wollte ich natürlich wissen, mit welchen Minderheiten sie sich bisher beschäftigt hat und welche sie noch gerne fotografisch festhalten möchte. Gegenüber der Nachdenklichkeit bezüglich ihrer Familiengeschichte fielen die Antworten zu meinen Fragen direkt impulsiv aus. Ihr Engagement in Sachen Minderheiten war unmissverständlich!
„Am liebsten alle. Dazu reicht keine Lebenszeit, wenn man ihre jeweilige, noch immer bunte eigene Geschichte umfassend erzählen wollte. Wie viele kleine Völker sind in den letzten Jahren verschwunden oder sind weiterhin bedroht, unbeachtet von der Weltgemeinschaft? Mehrheiten waren und sind mir zuweilen unheimlich. Wer bestimmt und setzt Normen?
Die Roma in Europa zum Beispiel: Wie erbärmlich wird diese Minderheit seit Jahrzehnten, in Wirklichkeit seit Jahrhunderten, nicht in unsere Gesellschaft integriert. Ein anderes Thema: Die Saharauis – einst ein Nomadenvolk der Westsahara. Seit Jahrzehnten leben sie in Flüchtlingslagern im Südwesten Algeriens. Tibeter oder Uiguren in China wurden ihrer Identität auf unglaubliche Weise beraubt. 1987 konnte ich das auf einer Reise durch Tibet sehen. Von der versteckten Not der Uiguren erfuhr ich erst später. Ein Teil der Tuareg hat sich in der Republik Niger, nicht mehr nomadisierend, in diesem Staat schlecht und recht eingerichtet. Unsere ,zivilisierte‘ Welt trägt ein mächtiges Doppelgesicht, ist endlos doppelzüngig. Politik und Wirtschaftsinteressen scheren sich wenig um Menschenrechte.
Meine letzte Reise nach Mali hat auf erschreckende Weise verdeutlicht, warum so viele Völker in totales Elend geraten. Diese instabilen Staaten können die verzweifelte Abwanderung ihrer Menschen nicht verhindern. Der ,freie Welthandel‘ erzwingt sich mit seinen hochsubventionierten Waren den Zutritt auf afrikanischen Märkten. Das nimmt den Einheimischen ihre eigenen kleinen Überlebensmöglichkeiten: Wir haben zu recht Angst vor den Fluchtwellen.“
Große Reise nach Mali
Für mich ganz besonders interessant waren Fragen nach dem Entstehen ihrer Projekte, vor allem von Projekten, die von einer umfangreichen Reisetätigkeit geprägt sind: „Zuweilen waren es Aufträge, die ich z. B. mit dem Schriftsteller Gerhard Roth für das ZEIT-Magazin erarbeitet habe. Für ihn wurde diese Arbeit ein Reiseführer durch die Abgründe der österreichischen Seele.
Manchmal entdeckt man etwas unvermutet und versucht, auf der Spur zu bleiben. Dann beauftragt man sich selbst, weil das Thema für einen wichtig wird. Meine Ausstellung TRANSIT im Jüdischen Museum der Stadt Wien ist dafür ein Beispiel. Von 1991 bis 1993 habe ich an diesem Thema gearbeitet, ohne Aussicht auf eine Veröffentlichung.
Meine umfassendste Arbeit, ,Wolgawelten‘, zwischen 1995 und 2005 entstanden, ist ebenfalls ein Beispiel dafür, sich selbst den Auftrag zu erteilen, das Thema Russland unmittelbar zu ergründen und nicht nur über die russische Literatur, über die Theaterstücke, die ich am Burgtheater mit Achim Benning fotographisch erarbeiten durfte. Mit seiner ,Sommergäste‘-Inszenierung wurde das Burgtheater 1982 nach Moskau eingeladen. Es wurde meine erste Russland- Begegnung.
Meine letzte große Reise nach Mali machte ich auf eine Einladung von Marie Roger Biloa, der Herausgeberin von Africa International. Wir sind seit 1980 befreundet.“
Der Stacheldraht
Schließlich standen wir im Hinterhof der „Schiffschul“, der trotz des strahlenden Tages einen trostlosen Eindruck vermittelte. Vor rund 20 Jahren entstanden hier und in der „Schul“ selbst die im Jüdischen Museum der Stadt Wien gezeigten Bilder. Welches Gefühl verbindet sie jetzt mit diesem Hinterhof? Diese Frage musste einfach gestellt werden, bevor wir wieder unsere Fahrräder bestiegen. Es folgte eine typische Christine-Antwort: „Ein sehr betroffenes Gefühl. Zum Teil ist dieser Hinterhof seit 1989 fast unverändert geblieben. Vernachlässigt wie damals. Nun ist an diesem Ort, der weiterhin von einem Brenneselfeld überwuchert ist, ein Zaun mit Stacheldraht errichtet worden. Offensichtlich versucht man, sich gegen Eindringlinge zu wehren. Ich wünschte mir einen sorgsameren Umgang mit diesem Ort, vielleicht eine Begegnungsstätte im Grünen. Der Stacheldraht jetzt, was für ein schreckliches Symbol! Wieder ist eine Seite gegen die andere, die eine aus Aggression, die andere aus Angst. Immer wieder können wir gegenseitige Fremdheiten nicht überwinden.“
Christine de Grancy wurde 1942 in Brünn (Tschechien) geboren. In Graz machte sie an der Kunstgewerbeschule eine Ausbildung in Keramik und Gebrauchsgrafik. Seit 1963 lebt sie in Wien und arbeitete in Werbeagenturen als Grafikerin und Art Direktorin. 1965 begann sie sich der Fotografie zu widmen. Ihre Reisen nach Griechenland, Japan, Portugal, Algerien, China, Tibet, Pakistan, der Türkei, Georgien, Russland, Niger und Mali gaben Anstöße für ihre fotografischen Arbeiten, die sie in Journalen, Bildbänden und Ausstellungen veröffentlichte. Das französischen Journal Photo zählte sie 1993 zu den hundert besten Fotografinnen der Welt.
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