Anita Haviv-Horiner ist gebürtige Wienerin, lebt in Israel und arbeitet in der politischen Bildung mit Schwerpunkt auf dem deutsch-israelischen Dialog. In ihrem neuen Buch berichten Deutsche, die in Israel, und Israelis, die in Deutschland leben, über ihre besondere Lebenssituation.
VON HERBERT VOGLMAYR
Mit Grenzen-los? – Deutsche in Israel und Israelis in Deutschland hat die NU-Autorin Anita Haviv-Horiner ein Buch veröffentlicht, in dem 16 Menschen ihre Geschichten erzählen, je acht Deutsche und Israelis, die im jeweils anderen Land leben. Die Interviews wurden über Monate hinweg mündlich geführt und liefen nach einem einheitlichen Muster ab, das sich am Leitmotiv „Grenzen“ orientierte. Dabei öffnet sich ein breites Spektrum an individuellen Perspektiven und Beziehungen, das sich in die umfassendere Geschichte der Annäherung zwischen Israel und Deutschland einfügt und gleichzeitig der differenzierten multikulturellen Vielfalt Rechnung trägt, zu der sich beide Gesellschaften entwickelt haben. Es wird deutlich, dass die Ausbildung einer Gruppenidentität religiöser, ethnischer, nationaler oder anderer Art ohne Grenzziehung zu anderen Gruppen nicht möglich ist und häufig zum schwierigen Problem von „Abgrenzung“ und „Ausgrenzung“ führt, dass sich aber eine pluralistische Gesellschaft nur entwickelt, wenn der Respekt vor der Identität des jeweils anderen zu einem konstruktiven Dialog über die (notwendige) Grenze hinweg führt.
Die „neue deutsch-israelische Lässigkeit“
Das Wortspiel „Grenzen-los?“ im Titel deutet an, dass es hier um mehrdeutige Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen geht, die nicht nur sichtbare räumliche und persönliche, sondern auch unsichtbare metaphorische Grenzen betreffen, und immer wieder die schier unmöglich erscheinende Überquerung jener beispiellos hohen Mauer, die durch die Geschichte der Schoa zwischen Deutschen und (israelischen) Juden errichtet wurde und die einst eine Grenze zwischen Leben und Tod war. Überraschenderweise zeigte diese Mauer zwischen dem Volk der Täter und dem Volk der Opfer bald nach dem Ende der Schoa Risse. Der „kleine Grenzverkehr“ begann gleich nach dem Untergang des Dritten Reiches, zuerst in den Bereichen des Kulturlebens und des Sports, nicht viel später auch in der offiziellen Politik. 1952 gab es die ersten Reparationen der Bundesrepublik an Israel, und seither haben sich die Beziehungen zwischen beiden Staaten erstaunlich positiv entwickelt, sodass Israel heute Deutschland zum zweitwichtigsten Partner nach den USA zählt. Konstante bleibt freilich der Bezug auf die Schoa als Fluchtpunkt deutsch-israelischer Beziehungen, auch wenn die globalisierte junge Generation beider Seiten die von der Geschichte geschaffenen Grenzen hinter sich lassen will und von einer „neuen deutsch-israelischen Lässigkeit“ die Rede ist.
Subjektive Sicht und historische Perspektive
Da die Subjektivität biografischer Erzählungen nicht als Ersatz für wissenschaftliche Analyse dienen kann, wird in einem Beitrag von Moshe Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem, die individuelle Sicht der Interviewten in Bezug gesetzt zu den politisch-historischen Entwicklungen. Wolfgang Sander, Didaktiker an der Universität Göttingen, erläutert schließlich die Möglichkeiten der Nutzung von Interviews in der Bildungsarbeit, in diesem Fall besonders in der politischen Bildung. Die didaktische Absicht liegt darin, dass LeserInnen/ StudentInnen die je besonderen Lebenswelten der Interviewten an eigene Fragestellungen anknüpfen und daraus lernen, über das Thema „Grenzen“ nachzudenken und gemeinsame Zukunft zu gestalten.
Grenzen-los? ist nicht nur ein vielschichtiges Buch zur belasteten und schwierigen Beziehungsgeschichte zwischen Deutschen und Juden, sondern auch ein hochaktueller Beitrag zur Grenzziehungsdebatte im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Europa.
Anita Haviv-Horiner (Hrsg.)
Grenzen-los? – Deutsche in Israel und Israelis in Deutschland
Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn (Bd. 1744)
242 Seiten
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