Am 9. Oktober beabsichtigte ein Attentäter, in die Synagoge von Halle einzudringen und die zur Jom-Kippur-Feier versammelten Betenden zu töten. Verstärkt das gesellschaftliche und politische Klima derartige Anschläge? Ein Gespräch zwischen Ronni Sinai und Nathan Spasić.
Nathan: Schalom Ronni. Mir geht das Attentat in Halle nicht mehr aus dem Kopf, auch wenn seither ein paar Wochen ins Land gezogen sind. Ich habe das Gefühl, dass jedes Mal, wenn ein Attentäter auf Juden losgeht, er als „psychisch krank“ abgetan wird. Das aber spricht dem Täter seine Zurechnungsfähigkeit ab. Er ist nicht mehr eine bewusst agierende Person, die seine Opfer nach gewissen Kriterien auswählt, sondern ein Kranker, also jemand, der nicht weiß, was er tut. Ich meine, wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir die Motive des Täters, aber auch das gesellschaftliche Klima, nicht ernst nehmen. Wie siehst du das?
Ronni: Das gesellschaftliche Klima war und ist sowieso immer angespannt, aber was heißt das denn? Bei vielen Leuten läuft das Leben nicht nach Wunsch, sie sehen sich als Verlierer des Systems und suchen die Schuldigen dafür, das war doch schon immer so. Gerade der Attentäter von Halle wurde von den Ermittlern auch so beschrieben. Aber einzelne unglückliche Menschen – wir sprechen hier nicht von Terrororganisationen –, die deswegen gleich zur Waffe greifen und in der Gegend herumballern, können doch nicht gesund sein – und repräsentieren auch nicht die Gesellschaft. Wie formulierte es unser Herr Bundespräsident: „So sind wir nicht.“ Was meinst du?
Nathan: Natürlich repräsentiert ein solcher Attentäter nicht die Gesellschaft als solche, wir sind definitiv nicht so. Ich denke aber schon, dass das gesellschaftliche Klima solche Menschen anheizt. Ein klassischer Amokläufer würde einfach auf den Dorfplatz laufen und wild um sich schießen, während ein politischer Attentäter sich seine Opfer aussucht. Oftmals entsprechen solche rechtsextremen Täter (aber auch radikale Islamisten) zusätzlich dem Bild eines „soldatischen“, also eines – in ihren Augen – harten, wehrhaften Mannes, der sich berufen sieht, gesellschaftliche Veränderungen selbst herbeizuführen. Dies trifft sowohl auf den Attentäter von Halle als auch auf den Christchurch-Attentäter oder Anders Breivik zu. Letzterer verfasste sogar ein Manifest, in dem er ein vermeintlich „verweichlichtes“ Männerbild beklagte und die FPÖ für ihre Anti-Einwanderungspolitik lobte. Der Christchurch-Attentäter wiederum pflegte Kontakte zu den Identitären, an deren Demonstrationen und Kongressen führende FPÖ-Politiker teilnahmen. Auch die antisemitischen Kampagnen gegen George Soros in Ungarn oder Polen nähren einen gewissen ideologischen Bodensatz und bestätigen diese wahnsinnigen „soldatischen Männer“ in ihrem Handeln.
Ronni: Durchaus. Das passt auch zu jenem Männerbild, das Gewalt gegen Frauen rechtfertigt. Ich bin ja kein Psychoanalytiker, aber irgendwie passt das alles zusammen, um ein vereinfachtes Psychogramm eines Attentäters zu erstellen, dessen Selbstwertgefühl sich über Macht, Gewalt, Unterdrückung, Fortpflanzung (Arterhaltung) und vor allem Stärke durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert. Letzteres widerspricht allerdings zugegeben der Theorie des kranken Einzeltäters. Was ich sagen möchte: Antisemitismus ist „nur“ ein Ausschnitt beziehungsweise ein Teil des Problems einer gespaltenen Gesellschaft. Natürlich sind wir Juden durch den Holocaust besonders sensibilisiert und traumatisiert hinsichtlich Ausgrenzung und Verfolgung, aber ich fühle mich von der Politik nicht allein gelassen damit. Es betrifft uns doch alle! Ich glaube auch nicht, dass ein rechtsradikales, faschistisches Programm in Europa heute tatsächlich mehrheitsfähig sein kann – solange sich die wirtschaftliche Situation nicht dramatisch verschlechtert, weil das wohl der beste Nährboden für Faschismus ist.
Nathan: Da kann ich dir zustimmen. Antisemitismus ist tatsächlich nur ein Fragment einer gespaltenen Gesellschaft. Allerdings finde ich, dass antisemitische Verschwörungstheorien im Subtext immer wieder in Erscheinung treten. Hinter den Flüchtlingen stünden dunkle Mächte, die sogenannte Hochfinanz, George Soros, „die Juden“. Der Halle-Attentäter sprach von einem „großen Austausch“ und repetierte damit die Theorie, wonach Soros die Migranten nach Deutschland gelockt hätte, um daraus einen multikulturellen Vielvölkerstaat zu machen: von den Identitären und rechtspopulistischen Parteien verbreitet, in Halle konsequent zu Ende gedacht. Laut einer Studie glauben 46 Prozent der Deutschen, dass geheime Organisationen einen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten. Jeder vierte Österreicher wünscht sich einen „starken Führer“. Das ist besorgniserregend.
Ronni: Traurig genug, dass ich dir nun – ganz untypisch jüdisch – kaum widersprechen kann, wenngleich ich etwas vorsichtig bin, was Studien und Statistiken betrifft. So polarisierend wie: zehn Prozent der Raucher erkranken an Lungenkrebs bzw. 90 Prozent der an Lungenkrebs Erkrankten sind Raucher. Aber das ist eine andere Geschichte …
Nathan: Antisemitismus findet man leider überall, und es ist unsere Aufgabe, ihm dort die Stirn zu bieten, wo wir ihm begegnen. Allerdings halte ich den Kampf dagegen für relativ aussichtslos, ähnlich wie beim Klima.
Ronni: Apropos Klimakrise, hast du eigentlich Zukunftsängste, Nathan? Du bist doch ein junger Mensch, was beschäftigt dich mehr: die Klimakatastrophe oder Antisemitismus? Stell dir mal vor, Greta Thunberg wäre Jüdin! Vielleicht weisen ihr die Rechten aber eh noch eine jüdische Abstammung nach oder zaubern zumindest eine Verbindung zu Soros aus dem Hut. Ich glaub, die extreme Linke ist aber auch nicht besser, was Verschwörungstheorien betrifft. Bin ich jetzt auch schon paranoid?
Nathan: Ich denke nicht, dass du paranoid bist, lieber Ronni. Oder wir sind es beide. Dann sind wir aber zumindest in guter Gesellschaft – und könnten ewig weiterdiskutieren.
Ronni: Du hast völlig recht. Womit ich zumindest für heute das letzte Wort habe.
Nathan: Das vorletzte …