Barbara Tóth sprach mit dem Grazer Historiker Heimo Halbrainer über sein Forschungsprojekt über das Massaker an ungarischen Juden am Präbichlpass und über die Gründe für die schleppende Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen in der Steiermark.
Von Barbara Tóth
NU: Herr Halbrainer, Sie beschäftigen sich intensiv mit der Vergangenheitsaufarbeitung in der Steiermark. Der Prozess des Erinnerns begann relativ spät. Warum?
Heimo Halbrainer: Es mag durchaus ein Grund für die späte Aufarbeitung in der Steiermark sein, dass es bei uns in der Steiermark das Fach Zeitgeschichte an der Universität erst seit zwanzig Jahren gibt. Institutionen, wie das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und andere außeruniversitäre Einrichtungen mehr, die bereits vor rund 40 Jahren mit der Aufarbeitung der dunklen Kapitel unserer Vergangenheit begonnen haben, gibt es in der Steiermark nicht. Und wenn ich so auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, in denen ich mit CLIO – Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit versucht habe, diese Themen zu bearbeiten, so kann ich feststellen, dass sich außer uns in der Steiermark fast niemand dieser Themen annimmt.
Sie haben über das Massaker an ungarischen Juden am Präbichlpass geforscht. Gibt es mittlerweile Erinnerungsorte dazu?
Die Ermordung von rund 200 Juden und Jüdinnen am Präbichl in Eisenerz im April 1945 gehört in der Steiermark zu den größten Verbrechen in der Endphase der NS-Herrschaft. Zehntausende ungarische Juden wurden Ende 1944 zur Zwangsarbeit an der österreichisch-ungarischen Grenze gezwungen, wo ein „Ostwall“ die näherrückende Rote Armee aufhalten sollte. Als dieses Unterfangen im März 1945 aufgegeben wurde, wurden die ungarischen Juden auf so genannten Todesmärschen nach Mauthausen getrieben. Zigtausende mussten dabei quer durch die Steiermark marschieren, wo es immer wieder durch lokale Volkssturmmänner und auch Hitlerjungen, die diese Züge begleiteten, zu Erschießungen von Juden kam. Das größte steirische Massaker verübte der Eisenerzer Volkssturm. Obwohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit Prozesse gegen die Verantwortlichen durchgeführt und zwölf Todesurteile ausgesprochen wurden, kam es bald zu einem kollektiven Vergessen und Verdrängen dieser Geschichte, zumal die Täter ja nicht „die Deutschen“ oder „die Nazis“ waren, sondern Bürger der Gemeinde. Ein öffentliches Erinnern gab es nicht, lediglich beim Leopoldsteinersee gab es einen von jüdischen Displaced Persons aus dem Lager Admont 1948 errichteten Friedhof. Im Jahr 2000 haben mehrere Personen die Gemeinde Eisenerz auf den Umstand, dass es kein Erinnerungszeichen an dieses Massaker gibt, aufmerksam gemacht und gemeinsam wurde in Eisenerz und der Umgebung ein Gedenkprozess in Gang gesetzt, der schließlich im Jahr 2004 zur Enthüllung eines von SchülerInnen entworfenen Mahnmals am Präbichl führte.
Vielfach trafen Sie bei Ihren Recherchen auf Gemeindefunktionäre, die gar nichts wussten über Gedenkstätten?
In der Steiermark gibt es – verglichen mit Wien oder Oberösterreich – nur einige wenige Gedenkstätten. Einige – wie etwa in Eisenerz oder Bretstein, wo ein Nebenlager des KZ Mauthausen war – sind erst in den letzten Jahren entstanden, wobei es hier vielfach so war, dass Jugendliche oder Schulklassen den Anstoß dazu gaben und den Bürgermeister für die Errichtung einer Gedenkstätte gewinnen konnten. Vielfach war es aber so, dass die dahinterliegende Geschichte den wenigsten bekannt war – was auch damit zusammenhängt, dass es dazu keine oder kaum wissenschaftliche Literatur gibt. Prinzipiell konnte ich aber feststellen, dass die Gemeindefunktionäre, die Bürgermeister, die allesamt der jüngeren Generation entstammen, rasch bereit waren, die Leerstelle des Wissens und der Erinnerung zu beseitigen.
Ebenfalls kaum bearbeitet ist das Thema Arisierung. Warum ist die Geschichte der Maschinenfabrik Andritz beispielsweise so wenig erforscht?
Das Thema der „Arisierung“ ist für die Steiermark kaum bearbeitet, was unter anderem damit zusammenhängt, dass – als die Historikerkommission vor Jahren die Aufarbeitung des Vermögensentzugs in Auftrag gab – die Steiermark wie auch bei anderen Themen, etwa dem Widerstand, „vergessen“ wurde. Ich habe mir einmal die offizielle Geschichte der Maschinenfabrik Andritz angesehen. Darin kommt mit keinem Wort die „Arisierung“ des Aktienkapitals von Wolfgang Gutmann, der 84 Prozent hielt, vor. Das trifft auch auf das Eisen- und Hammerwerk in Seebach zu sowie auf all die Beraubungen der „kleineren“ Betriebe, Geschäfte, Wohnungen. Der Grazer Historiker Eduard Staudinger hat zu diesen beiden Fabriken einen kleinen Aufsatz verfasst. Darüber hinaus gibt es – mit Ausnahme einer Lokalstudie zu Mürzzuschlag, wo es aber nur einige wenige jüdische Realien gab, die 1938/39 „arisiert“ wurden – keine Aufarbeitung. Wir haben uns vor Jahren an das Land Steiermark gewandt und ihnen angeboten, dass wir die Aufarbeitung der „Arisierung“ und der Rückstellung in der Steiermark, entsprechend einem Beschluss der Landesregierung aus dem Jahr 2000, übernehmen würden. Wir haben bis heute keine offizielle Antwort darauf bekommen. Braucht es einen Generationswechsel unter Historikern, um über solche Ereignisse offen zu forschen? Sagen wir so, es ist sicher nicht von Nachteil, dass sich eine jüngere Generation mit diesen Ereignissen auseinander setzt. Es hängt auch damit zusammen, dass viele der notwendigen Akten erst in den letzten Jahren zugänglich wurden.
Inwieweit waren Wissenschafter in der Steiermark selber belastet und haben deshalb nicht nachgefragt?
Wie gesagt, es gibt das Fach Zeitgeschichte in der Steiermark erst seit rund 20 Jahren. Die HistorikerInnen waren bei der Gründung des Instituts allesamt jung, entstammten der 68er Generation und haben sich – auch die Zeitgeschichte unterliegt „Modethemen“ – den damals aktuellen Diskussionen zur Sozialgeschichte, Oral History, Frauengeschichte oder Widerstandsforschung zugewandt. Ein „Nicht-Behandeln“ etwa der Tätergeschichte hat daher nichts mit eigenen Belastungen zu tun. Interessant ist aber, dass es keine Aufarbeitung der Geschichte der Universität Graz zwischen 1938 und 1945 gibt, außer einer von außen durchgeführten knappen Darstellung aus dem Jahr 1985 – wobei den damals jungen Forschern der Zugang zum Universitätsarchiv verwehrt wurde – und einer in den letzten Jahren begonnenen Beschäftigung mit der Medizin im Dritten Reich.
Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema?
Nicht in dem Sinn wie die 68er, die sich mit den Taten oder Untaten ihrer Eltern auseinander setzten und so bis dahin tabuisierte Themen erstmals ansprachen. Dafür sind meine Eltern zu jung und von meinen Großeltern weiß ich eigentlich nicht viel, außer dass mein Großvater in den letzten Wochen – so eine immer wiederkehrende Erzählung, die ich als Zehnjähriger zu hören bekam – desertiert ist und sich irgendwo versteckt hat, wobei ich nicht einmal weiß, ob er nicht nur im Volkssturm war. Einen persönlichen Bezug gibt es eher dahin, dass ich in den letzten 20 Jahren viele Menschen kennen lernen konnte, die – wie es der hingerichtete Grazer Schriftsteller Richard Zach in einem seiner Zellengedichte formuliert hat – den anderen Weg gegangen sind. Viele dieser Menschen, die im Widerstand aktiv waren, die verfolgt wurden, sind mir persönliche Freunde geworden. Unter anderem ihre Geschichte zu erzählen, auch wie mit ihnen nach 1945 umgegangen wurde – und sie somit dem Vergessen zu entreißen – ist mir schon ein persönliches Anliegen.
Wurde in Ihrer Familie über den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Zeit gesprochen?
Nein, überhaupt nicht.
Zur Person:
Heimo Halbrainer, geb. 1963 in Knittelfeld, studierte Geschichte und Deutsche Philologie an der Universität Graz; Projektassistent am Institut für österreichische Rechtsgeschichte bzw. am Institut für Geschichte/Zeitgeschichte; Leiter von „CLIO – Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit“ in Graz; zahlreiche Publikationen und Aufsätze zu den Forschungsschwerpunkten: Jüdisches Leben in der Steiermark, Kriegsverbrecherprozesse nach 1945, Widerstand und Verfolgung. www.clio-graz.net