Der Stadt Krems fällt es schwer, mit ihrer Vergangenheit umzugehen. Der Kremser Historiker Robert Streibel, Leiter der Volkshochschule in Wien- Hietzing, ist einer der wenigen, die das ändern möchten.
Von Sophie Lillie
In der Wiener Straße 133, gleich an der Auffahrt zur Schnellstraße nach St. Pölten, liegt der kleine, 1882 eingeweihte jüdische Friedhof von Krems. Der Schlüssel für das eiserne Friedhofstor ist an der gegenüber liegenden Avanti-Tankstelle hinterlegt, doch es zieht wenige Besucher an diesen einsamen Ort. Nur rund 160 Gräber sind hier erhalten, mehrere Grabreihen wurden von den Nationalsozialisten geschleift, um Baracken für französische Kriegsgefangene zu errichten. „Die Verlassenheit dieses Friedhofs ist ein Ergebnis der Geschichte, die den Toten die Lebenden geraubt hat“, sagt der Leiter der Volkshochschule Hietzing, Robert Streibel (48). Der Initiative des aus Krems stammenden Historikers ist zu verdanken, dass den Toten nach jahrzehntelanger Vernachlässigung ein würdiges Denkmal gesetzt wurde.
Nachdem die Stadt Krems sich außerstande erklärte, die Kosten der dringend notwendigen Sanierungsarbeiten zu übernehmen, lud Streibel kurzerhand zu einem Aktionstag am 26. Oktober 2003. Unter dem Motto „Gärtnern statt wandern am Nationalfeiertag“ finden sich seitdem regelmäßig freiwillige Helfer, die die 177 Gräber von Gestrüpp befreien, um, wie es Streibel nennt, „Geschichte wieder sichtbar zu machen“. Auf Streibels Initiative wurde hier am 9. November 1995, dem Jahrestag des Novemberpogroms, ein Denkmal zur Erinnerung an 129 ermordete und vertriebene Kremser Juden eingeweiht. Der Wiener Künstler Hans Kupelwieser entwarf das 43 Meter lange, knapp über dem Boden schwebende Stahlband, in dem Namen und Daten der ehemaligen Gemeindemitglieder eingeschnitten sind. Quer zum Friedhofseingang platziert, gleicht es einer „Schwelle zwischen Erinnern und Vergessen“, so Streibel.
Eine weitere künstlerische Intervention sind drei Bücherschreine im Format eines Grabsteins, eine Arbeit des amerikanischisraelischen Künstlerduos Michael Clegg und Martin Guttmann aus dem Jahr 2005. „Das ist der einzige Friedhof der Welt, der gleichzeitig öffentliche Bibliothek ist“, meint Streibel schmunzelnd.
Clegg & Guttmanns Projekt war ursprünglich konzipiert für die Außenmauer der Kremser Piaristenkirche, wo 1421, als Machtdemonstration der katholischen Kirche, der Grabstein des rund vierzig Jahre zuvor verstorbenen Rabbi Nehemia bar Jakob eingemauert wurde. Aufgrund dringend notwendiger Restaurierungsarbeiten kam es 2000 zur Herauslösung des 600 Kilogramm schweren Steines und zu dessen Überführung auf den jüdischen Friedhof. Gleichzeitig entstand die Idee, das Loch nicht zu schließen – was für Streibel einem „verniedlichenden Eingriff in die Geschichte“ gleichgekommen wäre – sondern als offene „Wunde“ zu belassen. Clegg & Guttmanns Konzept einer offenen Bibliothek, das aus einem vom Land Niederösterreich ausgeschriebenen Wettwerb als Siegerprojekt hervorgegangen war, scheiterte aber am Widerstand des Piaristenordens.
Zeitgemäßes Gedenken in Form künstlerischer Interventionen, Aktionen im öffentlichen Raum, die ein hohes Maß an Partizipation einfordern, kennzeichnen Streibels Initiativen der letzten Jahre. „Hand anlegen an die Geschichte“ nennt Streibel seine Aktionstage am Jüdischen Friedhof. Relikte der einst blühenden jüdischen Gemeinde werden somit aus dem Bereich des Musealen herausgerissen und zu Orten der Begegnung und des Handelns umdefiniert.
Zu Streibels allerfrühesten Aktionen gehört das Projekt Historical Mail Research. Am 9. November 1998 schickte Streibel Post an 127 ehemals in Krems lebende Juden: adressiert an deren früheren Kremser Wohnort, an sogenannte „jüdische Sammelwohnungen“ in Wien, ins ausländische Exil bzw. an den Deportationsort. Indem sie „einen Weg ohne Zurück“ nachzeichneten, sollten diese Briefe den Opfern zumindest ein „unsichtbares Denkmal“ setzen.
Bedeutsam ist, dass sämtliche ins Ausland verschickte Briefe rückgeschickt wurden – selbst jene, die als Anschrift nur Namen und Deportationsort trugen. Die rund 80 Briefe, die an Adressen in Krems geschickt worden waren, verschwanden jedoch spurlos. Ein einziger kam retour, mit dem lakonischen Vermerk eines Unbekannten: „Seinerzeit ausgewandert nach Palästina.“ „Seinerzeit ausgewandert nach Palästina“ wurde namensgebend für eine Installation, die heute Teil einer kleinen Dauerausstellung im ehemaligen Friedhofswärterhäuschen ist. Seit Jahren bemüht sich Streibel um die Schaffung einer geeigneteren Dokumentationsstätte am Friedhofsgelände. Das Land Niederösterreich hat zugesagt, die Gesamtkosten von 80.000 Euro zu fast zwei Drittel mitzutragen, weitere Partner müssen gefunden werden.
Bis dahin halten Einzelprojekte die Erinnerung an die Kremser jüdische Gemeinde wach. Zuletzt war dies das Projekt „Eine Stadt trägt Geschichte“, das Streibel gemeinsam mit seiner Schwester Elisabeth Streibel, einer Lehrerin am BRG Ringstraße, und deren Schülerinnen entwickelte. Aufgabe war es, in ehemals Kremser Juden gehörenden Geschäften Tafeln anzubringen, die an die einstigen Besitzer erinnerten. Die Arbeit mit Schülern ist für das Duo – das ihr politisches Bewusstsein durch die Erzählungen ihrer Großmutter geprägt sieht – ein besonderes Anliegen. Jugendlichen sollte nicht nur Stadtgeschichte gelehrt, sondern auch durch die Konfrontation mit Geschäftsinhabern und Passanten der heutige Umgang mit Geschichte vor Augen geführt werden. Trotz anfänglicher Widerstände (Streibel: „Der Erste, der zusagte, war der persische Teppichhändler …“) konnten zwanzig Tafeln mit Kurzbiographien, historischen Dokumenten und Fotos installiert werden.
In der Sonnentor-Apotheke erzählen zwei Tafeln von der Familie Wasservogel und der Familie Neuner, die hier ein Wäschegeschäft betrieb. Hier am Fuße des Steinertors, dem Wahrzeichen der Stadt, ist nun eine Postkartenansicht der Oberen Landstraße aus dem März 1938 verewigt. Krems – während der Verbotszeit die „heimliche Hauptstadt der Ostmark“ – gleicht einem Meer aus Hakenkreuzfahnen. In der Handschrift Erich Wasservogels eine Notiz an seine nach Palästina geflüchtete Schwester: „Ein kleiner Ausschnitt von hier. Heute ist die Beflaggung ein 10-Faches davon wie dieses Bild.“
Nach jahrelanger Pionierarbeit hat Streibels Tätigkeit seinen festen Platz gefunden. Das anfängliche Misstrauen seitens der Stadt ist gewichen, stattdessen ist fast so etwas wie Stolz auf deren reichhaltige jüdische Geschichte entstanden. Den Anspruch dieser Arbeit beweist das „unsichtbare Denkmal“ des Kremser Künstlers Leo Zogmayer, der 1995 zwei Metallkuben in das Steinertor einmauerte, mit einer von 500 Kremser Bürgern unterschriebenen Erklärung gegen Antisemitismus und Rassismus. „Man muss an den Grundfesten ansetzen, ohne vor Wahrzeichen haltzumachen“, sagt Streibel und plädiert für eine „Pädagogik ohne Schlussstrich“: „Jede Generation muss ihren eigenen Zugang zu dieser Geschichte finden.“
Tipp: www.judeninkrems.at