Von Martin Engelberg
In einem jiddischen Kabarett hörte ich einmal folgenden Sketch über einen, der meinte, mit einer Tat eine ganz außergewöhnliche Leistung vollbracht zu haben, von der alle anderen jedoch dachten, es handle sich dabei nur um viel leere Luft: „Moische – wus machst di? Ich hob gemacht a Reform. Oha! Gemacht a Reform? Jo, gemacht a Reform. Gemacht? Gemacht! Und gemacht und gemacht und gemacht …“ Die Kultusgemeinde hat eine Reform der Statuten gemacht. In zwei Ausgaben der „Gemeinde“ wurde darüber ausführlich und prominent berichtet: Nach 114 Jahren würde das Statut endlich reformiert, ein Jahr lang hätte eine Kommission daran gearbeitet, den Entwurf hätte der Präsident seit 1981 mit sich herumgetragen.
Die Kernpunkte der Reform (laut „Gemeinde“ und Meldung der APA):
• Die Kultusgemeinde definiere sich jetzt eindeutig als politische Vertretung der österreichischen Juden nach außen. (Das war jedoch auch bisher so, Anm. d. Autors.)
• Der Präsident würde entmachtet. (Diese Behauptung ist allerdings aufgrund des Statutenentwurfs nicht nachvollziehbar.)
• Es gibt zwei anstatt bisher nur einen Generalsekretär. (Eine Änderung, die wohl eher in Zusammenhang mit der bevorstehenden Pensionierung des derzeitigen Generalsekretärs Dr. Hodik und der bereits ausgehandelten Nachfolge zu stehen scheint, bei der zwei Personen „untergebracht“ werden müssen.)
• Schlussendlich werde der Sprung der Kultusgemeinde ins 21. Jahrhundert dadurch gewährleistet, dass alle im Statut genannten Funktionen grundsätzlich von Männern und Frauen wahrgenommen werden können, die eines Rabbiners ausgenommen. (Dies war aber auch schon bisher so, auch im 19. Jahrhundert.)
Ein eigenes Bürgerparlament solle über die Statutenreform beraten und man möge den Entwurf im Generalsekretariat anfordern, stand in der September-Ausgabe der „Gemeinde“. Bei ebendieser Veranstaltung waren dann sage und schreibe 20 Personen anwesend. Den Entwurf vorab angefordert hatten insgesamt drei Personen. Zwei Journalisten, die den Entwurf, obwohl auch Gemeindemitglieder, jedoch nicht erhielten und ein weiteres Mitglied der Gemeinde, welches ihn erhielt – der Autor dieser Zeilen.
Es tut einem geradezu körperlich weh mit anzusehen, wie ein weiteres Mal diese kleine Schar von Funktionären der Kultusgemeinde in wahrscheinlich tausenden Stunden bezahlter und freiwilliger Arbeit, mit – zumindest mehrheitlich – guten Absichten, eine Statutenreform macht, die bestenfalls als eine Straffung und sprachliche Redaktion bezeichnet werden kann und welche, neben einigen anderen wichtigen Punkten, die zwei zentralen Probleme der Kultusgemeinde völlig außer Acht lässt:
1. Das Wahlrecht und die Organisationsstruktur
Es gehört heute zum Basiswissen von Organisationswissenschaftern, dass gerade kleine Organisationen, wie die Kultusgemeinde eine ist, große Probleme mit der Abhaltung von demokratischen, fairen und würdigen Wahlauseinandersetzungen haben. Wir kennen dies von Briefmarken-, Kleingarten-, Elternvereinen, von Organisationen jeder Art und jeder Konfession; da bildet die Kultusgemeinde also keine Ausnahme.
Besonders verschlimmernd wirkt jedoch neben anderen, zum Teil von uns selber als charakteristisch jüdisch angesehenen Dynamiken, das bestehende Wahlrecht. Konzipiert für eine Gemeinde mit fast 200.000 Mitgliedern, gibt es 24 Kultusvorsteher, gewählt aufgrund von Wahllisten, mit Koppelungsmöglichkeiten und einem endlosen Wahlkampf, geführt ohne irgendeine Beschränkung des Mitteleinsatzes. Mit dem Resultat beschämender und immer mehr Gemeindemitglieder abstoßender Wahlauseinandersetzungen und solcher Kuriositäten wie der Tatsache, dass praktisch jeder Kultusvorsteher seine 80 bis 100 Wähler persönlich kennt und dass die zu wählenden Kandidaten der 11 Wahllisten und deren nächste Familienangehörige ca. 30 bis 40 Prozent der gesamten Wähler ausmachen.
Es wäre daher dringend an der Zeit, den Vorstand der Kultusgemeinde auf sieben, maximal neun Mitglieder mit einem Präsidenten zu reduzieren. Einen Vorstand, der eine reine Aufsichtsratsfunktion gegenüber dem bezahlten Verwaltungsapparat einzunehmen hätte. Der sich auf die Vorgabe von Leitlinien und seine politische Funktion konzentrieren könnte. Dies alles unter einem vernünftigen Aufwand an Zeit und Energie.Die Mitglieder dieses Vorstandes wären in einer Persönlichkeitswahl, im Rahmen einer Briefwahl, zu bestellen. Dies nachdem allen Kandidaten – gemeinsam – bei mehreren, in den verschiedenen Teilen der Gemeinde abzuhaltenden Veranstaltungen und in einer oder zwei Sondernummern der „Gemeinde“ die gleichen Möglichkeiten gegeben wurden, sich vorzustellen. Bei Untersagung jeglicher sonstiger Agitation, Versendung von Zeitungen und dgl. mehr. All dies wie es bereits in moderneren Organisationen gehandhabt wird, die sich dieser Problematik bewusst geworden sind und wofür es bereits einige Literatur gibt.
2. Inhaltliche Ausrichtung
In all den Jahren, in denen ich die Politik der Kultusgemeinde – eine Zeit lang mehr, eine Zeit lang weniger – miterlebte, stellte sich mir immer wieder die Frage, was eigentlich die wichtigsten Inhalte, die wichtigsten Ziele der Kultusgemeinde wären. Es erschien mir geradezu unabdingbar, diese grundsätzliche Diskussion, vor allem im Rahmen einer Statutenreform, einmal zu führen und solche Inhalte und Ziele – so schwierig und mons-trös diese Aufgabe auch erscheinen mag – zu formulieren.
Als besonders gute Anregung erschien mir eine religiöse Quelle: Das Shemoneh Esrei Gebet, welches wir in dieser Form seit der Zerstörung des 2. Tempels drei Mal täglich beten (sollten) und in dem wir unsere (18 bzw. 19) Wünsche an Gott äußern, beginnen wir mit drei Huldigungen Gottes. Die erste Bitte jedoch, die wir für uns Menschen äußern, ist nicht jene nach Glück, Erlösung, Gesundheit oder gar Geld. Nein, es ist die Bitte um Chochma, Bina und Da’at – um Weisheit, Verstand/Einsicht und Wissen.
Und hier eröffnet sich das – wie ich meine – fürchterliche Defizit der Kultusgemeinde gegenüber z. B. den Lubawitschern. Während diese die o. g. Begriffe in jeder Hinsicht zu ihrem Markenzeichen gemacht haben – die Lubawitscher Bewegung nennt sich eben auch Chabad (aus den Anfangsbuchstaben der drei Begriffe) –, steht, vielleicht etwas polemisch gesprochen, für viele das Markenzeichen der Kultusgemeinde „IKG“ für Immobilien, Kumpelwirtschaft und Geld. Wenn es die Kultusgemeinde daher nicht schafft, ihr Selbstverständnis, ihre Ziele, ihren Fokus stattdessen auf mehr Menschlichkeit, Weisheit, Gefühl und Verstand im Umgang mit den Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde, auf die Förderung einer lebendigen, diskussionsfreudigen und kontroversen jüdischen Kultur, von jüdischem Wissen, Geist usw. zu richten, es also nicht schafft, als Synonyme für die Marke „IKG“, sagen wir einmal, die Begriffe Intellekt, Kultur und Gemeinschaft zu setzen, dann hat sie eben eine Statutenreform gemacht. Gemacht und gemacht und gemacht.