Noch nie in den 2000 Jahren der Diaspora waren Jüdinnen und Juden so prominent in allen wesentlichen Bereichen einer Nation vertreten wie in den Vereinigten Staaten. Selbst im tiefen Süden können Juden in höchste Ämter gewählt werden. Wo in den USA Macht, Wohlstand und Ansehen zu finden ist, sind Jüdinnen und Juden überrepräsentiert.
VON ERIC FREY
Unzählige Synagogen wurden im späten 19. Jahrhundert in Mitteleuropa im maurischen Stil errichtet oder beinhalten deutliche arabisch-iberische Stilelemente. Hinter dieser Architektur verbirgt sich die Sehnsucht der damaligen jüdischen Gemeinden nach dem „goldenen jüdischen Zeitalter“ im mittelalterlichen Spanien. Diese Interpretation der Geschichte ist zwar verklärt, denn auch unter muslimischer Herrschaft gab es religiöse Intoleranz und Judenverfolgungen. Aber der Mythos hatte eine besondere Bedeutung: Ein großer Teil der Juden in Europa sah sich damals tatsächlich in einem goldenen Zeitalter. Sie hatten gesellschaftliche Anerkennung, Wohlstand und einen beeindruckenden beruflichen Aufstieg erreicht, der vom allgegenwärtigen Antisemitismus nur wenig beeinträchtigt wurde.
Wir alle wissen, wie dieser Traum endete, nämlich noch tragischer als die Vernichtung der jüdisch-iberischen Zivilisation durch die katholische Vertreibung, Zwangskonversion und Ermordung ab 1492. Die Katastrophe der Schoah hat dem traditionellen jüdischen Fatalismus starken Auftrieb gegeben: Jede gute Zeit hat ein Ende, und je besser es Juden geht, desto Schlimmeres steht ihnen bevor.
Auch in der Sowjetunion mussten Juden diese Erfahrung machen: Wie der russisch-amerikanische Historiker Yuri Slezkine in seinem wunderbaren Buch Das jüdische Jahrhundert schreibt, spielten jüdische Intellektuelle und Aktivisten in der bolschewistischen Revolution und der jungen Sowjetunion eine dominierende Rolle, bis schließlich Stalins Terror Unzählige das Leben kostete und die anderen zwang, ihr Judentum zu verstecken. Im letzten Teil seines Buches beschreibt Slezkine ein weiteres jüdisches „goldenes Zeitalter“, jenes in den USA. Und dieses stellt, gemessen an beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgen, alle früheren in den Schatten.
Fruchtbares Feld
Noch nie in den 2000 Jahren der Diaspora waren Jüdinnen und Juden so prominent in allen wesentlichen Bereichen einer Nation vertreten wie in den Vereinigten Staaten, sei es in der Wissenschaft, in der Kunst und Kultur, in den Medien oder in der Finanzwelt. Mehr als ein Drittel aller Nobelpreise, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA gingen, wurden an Amerikanerinnen und Amerikaner mit jüdischen Wurzeln oder jüdischem Glauben verliehen. Selbst im Sport, vor allem im Schwimmen, reichen die Erfolge US-jüdischer Sportlerinnen und Sportler an die Glanzzeit der jüdischen Athleten in Mitteleuropa vor dem Zweiten Weltkrieg heran.
Galt die US-amerikanische Politik mit ihrem stark religiösen Einschlag noch vor wenigen Jahrzehnten als wenig fruchtbares Feld für Juden, so hat sich auch das geändert. Bernie Sanders ist bei seinen Präsidentschaftskandidaturen sicher nicht an seiner jüdischen Herkunft gescheitert, und selbst im tiefen Süden können Juden in höchste Ämter gewählt werden, wie Jon Ossoff zuletzt in Georgia bewiesen hat. Wo in den USA Macht, Wohlstand und Ansehen zu finden ist, sind Jüdinnen und Juden überrepräsentiert.
Anders als in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und in den Jahrzehnten danach gibt es auch immer weniger Golfclubs, in denen Juden nicht aufgenommen werden, oder Unternehmen, in denen sie eingeschränkte Aufstiegschancen haben. Die beiden zentralen Themen des amerikanischen Judentums, das Gedenken an den Holocaust und die Solidarität mit dem Staat Israel, sind Teil des Mainstreams geworden, und an die Stelle des einstigen christlichen Antisemitismus ist Anerkennung für das gemeinsame christlich-jüdische Erbe und eine oft bedingungslose Unterstützung für Israel getreten.
Seit Gründung der Vereinigten Staaten vor 240 Jahren war das jüdische Denken von der Überzeugung geprägt, dass das gelobte Land für das jüdische Volk gefunden worden sei, dass die Reste des Judenhasses vom allgemeinen Fortschritt überwunden werden könnten und dass Kinder und Enkel gleichzeitig Juden und Amerikaner sein würden. Diese Hoffnung ist in unserer Zeit weitgehend Realität geworden.
Wachsende Feindlichkeit
Doch gerade diese optimistische Erwartungshaltung ist in jüngster Zeit bei vielen Juden verloren gegangen. Antisemitismus mag nicht unbedingt zugenommen haben, aber er ist sichtbarer geworden, sei es durch die sozialen Medien oder durch gewalttätige Vorfälle, vor allem Anschläge auf jüdische Einrichtungen. Die Demonstrationen von Charlottesville 2017, wo Neonazis „Jews will not replace us“ schrien, der blutige Anschlag des Rechtsextremisten Robert Bowers auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh 2018 mit elf Toten und die zum Glück glimpflich beendete Geiselnahme in der Synagoge bei Dallas durch den britischen Pakistani Malik Faisal Akram im Jänner 2022 haben das Gefühl der Sicherheit zerstört, das jüdisches Leben in den USA von so lange von dem in Europa unterschied. Nun müssen auch in Nordamerika bewaffnete Polizisten oder Security-Leute am Schabbat vor Synagogen stehen.
Das neue Unbehagen geht noch tiefer. Die zunehmende Feindlichkeit gegenüber Israel an vielen linksliberalen Universitäten belastet jüdische Studierende. Und viele Jüdinnen und Juden, die sich stets der Demokratischen Partei verbunden gefühlt haben, fürchten, dass der proisraelische Grundkonsens dort verloren geht. Genauso belastend ist das Abdriften von Teilen der Republikanischen Partei in einen rechten Ethno-Nationalismus, der immer öfter zu antijüdischen Verschwörungstheorien neigt. Donald Trump mag zwar eine jüdische Familie haben, aber viele Beobachter halten ihn für einen kaum verhüllten Antisemiten. Und die Corona-Pandemie hat diese Tendenzen noch verstärkt.
Ist also auch dieses goldene jüdische Zeitalter dem Untergang geweiht? Kann der Tag kommen, an dem jüdische Familien ebenso aus den USA flüchten müssen, so wie einst ihre Vorfahren aus Europa? Noch sind solche Szenarien emotional unvorstellbar und rational wenig wahrscheinlich. Die größte Bedrohung für das Fortbestehen eines lebendigen Judentums in Nordamerika ist eher die starke Assimilation als Folge der so tiefen Integration der jüdischen Religion und Kultur in die US-Gesellschaft: Wenn junge Jüdinnen und Juden gegenüber anderen ethnischen und religiösen Gruppen keine Barrieren mehr erleben, dann schwindet der Wille zum Erhalt der eigenen Identität.
Zunehmende Polarisierung
Aber es gibt sehr wohl aktuelle Entwicklungen, die für US-Juden tief bedrohlich sind. Die amerikanische Demokratie scheint in Gefahr – oder zumindest nicht mehr gesichert, die politische Polarisierung erschreckt. Den Sturm aufs Kapitol am 6. Jänner 2021 haben viele als böses Omen gesehen. Wenn es den Republikanern 2024 gelingt, Trump durch die Manipulation des Wahlsystems zurück ins Weiße Haus zu bringen, könnte es nach Ansicht mancher Kommentatoren zu Gewaltausbrüchen oder gar einem Bürgerkrieg kommen. Die große Mehrheit der US-Juden findet sich auf Seite jener liberalen, urbanen und progressiven Bevölkerungsgruppen, die von der neuen radikalen Rechten als Volksfeinde verdammt werden.
Sollten die schlimmsten Prognosen eintreffen, wird das Fundament der vielleicht größten Erfolgsgeschichte des Judentums zusammenbrechen. Aber das heißt nicht, dass Jüdinnen und Juden dann mehr leiden werden als andere. Wie der linksliberale Publizist Peter Beinart vor kurzem schrieb: „Wenn die amerikanische Demokratie scheitert, dann werden die Vereinigten Staaten zu einem gefährlichen Ort nicht nur für Juden, sondern für uns alle.“