Von Martin Engelberg
Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob es mehr als eine Kultusgemeinde geben soll. Ich persönlich finde, dass die Nachteile überwiegen, aber gleichzeitig f ü rchte ich, dass die Politik und Haltung der I.K.G. sehr schnell zu einer Spaltung führen könnten. Ein viel größeres Problem scheint mir jedoch, dass sich immer mehr Mitglieder von der Israelischen Kultusgemeinde (IKG) abwenden. Angesichts unserer Jahrtausende alten Tradition beim geringsten Anlass sofort eine neue Schule, eine neue Gemeinde, eine neue Partei zu gründen, grenzt es an ein Wunder, dass es in Wien nur eine jüdische Gemeinde gibt.
Der unter uns Juden weit verbreitete Hang zum Nonkonformismus hat ja durchaus etwas Erfrischendes, Lebendiges. Waren die Menschen in der nichtjüdischen Welt untergeordnet, in ihrer Meinungsäußerung und sogar Gedankenfreiheit eingeschränkt, ergab sich für uns Juden schon aus dem Talmud lernen die Notwendigkeit, alles und jeden zu hinterfragen.
So gab es immer genug Raum für Kontroverse. „Tomer doch“ (falls schon?) oder „Efscher Nischt“ (vielleicht nicht?) sind nicht zufällig sehr geläufige jiddische Redewendungen.
Doch die Gründung weiterer Kultusgemeinden, also eine Spaltung der IKG, ist derzeit ein Minderheiten-, ja ein Außenseiterprogramm. Die Bruchlinien gehen nicht durch die Mitte der Gemeinde. Vorerst ist es nur Moishe Arye Friedman, der die Gründung einer Konkurrenz zur I.K.G. anstrebt (siehe auch den ausführlicheren Artikel von Alexia Wernegger in dieser Ausgabe von NU). Er bezeichnet sich selbst als Rabbiner und hat sich noch dazu mit der FPÖ eingelassen. Sein Anliegen ist ein völlig sinnloses und aussichtsloses Unterfangen.
Etwas schwieriger könnte die Situation durch die Reformgemeinde „Or Chadash“ werden. Inspiriert durch die neu engagierte Rabbinerin Goodman-Thau könnte diese Gemeinde den mühsam ausgehandelten Ausgleich in der I.K.G. gefährden. Die Orthodoxie, ohnehin unglücklich mit dem Stil der I.K.G. seit der Wahl von Dr. Ariel Muzicant, hat vor zwei Jahren bereits einen eigenen Dachverband – vorerst nur auf vereinsrechtlicher Basis – gegründet und steht Gewehr bei Fuß.
So flexibel die orthodoxen Gruppen in vielen Fragen, vor allem angesichts ihnen gewährter, finanzieller Kompensationen sind, lassen sie in der Frage von Reformgemeinden keinen Spielraum offen. Tritt also etwa „Or Chadasch“ bei den Kultuswahlen als eigene Liste an (was ihnen unter Einhaltung der Erfordernisse der Wahlordnung ja nicht verwehrt werden könnte), verlassen die Orthodoxen die I.K.G. und gründen – sicherlich mit mehr Erfolg als der zwielichtige Friedman – eine eigene Kultusgemeinde.
Gäbe es in Wien zwei oder mehre re jüdische Gemeinden würde sich allerdings einiges klären, könnten und müssten sich die jeweiligen Gemeinden ein schärferes Profil geben, entsprechende Aktivitäten setzen, sich in einen Wettbewerb begeben. Die Juden Wiens könnten davon nur profitieren.
Dem entgegen steht vor allem die österreichische Politik mit ihrem unwillkürlichen Bestreben, die jüdische Gemeinschaft durch Spaltung – „divide et impera“ – gegeneinander auszuspielen und damit insgesamt zu schwächen. Das vor allem macht Abspaltungsüberlegungen derzeit so gefährlich.
Doch die Neigung der derzeitigen Führung der I.K.G., sich dieses Argument zunutze zu machen und alle Andersdenkenden und Kritiker hinter sich zu zwingen oder zum Schweigen zu bringen, wird spätestens mittelfristig gravierende Folgen haben: Bei steigendem Innendruck wird eine Spaltung irgendwann unvermeidlich.
Doch das aktuellere Problem ist, wie gesagt, dass sich nicht mehr Mitglieder von der Gemeinde abwenden. Allen voran mangelt es der I.K.G. derzeit völlig an einer Vision für die Zukunft der Juden in Wien. Noch bevor sie sich mit der Frage beschäftigen können, wie sie ihr Judentum leben wollen, wird ihnen schon die Frage gestellt: „Ja, dürfen die das überhaupt?“
Selbstverständlich ist es langfristig sehr schwer, die unterschiedlichen Strömungen im Judentum unter einem Hut zu halten. Anstatt aber das Problem als Bedrohung zu begreifen und die verschiedenen Richtungen und dahinterstehenden Menschen zu bekämpfen, wäre es Aufgabe, diese Verschiedenheit im Gegenteil als Chance, als Bereicherung zu erfassen. Wa rum kann die I.K.G. nicht die verschiedenen Richtungen, in ihrer Unterschiedlichkeit bei ihrer Entfaltung unterstützen? Ohne eine Uniformität einzufordern, ja sogar zu erpressen, die eben nicht vorhanden ist. Juden, nicht nur in Wien, begreifen sich nun mal sehr unterschiedlich in ihrer Identität und das ist vorerst einmal kein Fehler. „Als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einverständnis mit der ‘kompakten Majorität‘ zu verzichten“, sagte Sigmund Freud in einer Rede vor der B’nai B’rith. Dieser Freiraum, diese Beweglichkeit im Denken, war für Freud eine der Gründe, die ihm ermöglichten, die Welt mit der Entwicklung der Psychoanalyse zu revolutionieren. Eine Freiheit im Denken, die nicht nur gegenüber der Welt draußen, sondern umso mehr nach innen zu gelten hat.
Geben wir doch zuerst einmal den Religiösen Raum und jenen, die sich überhaupt nicht über die Religion als Juden definieren . Lassen wir doch zu, dass sich wegen eines nicht eindeutig bestimmbaren, aber dennoch nicht minder starken Gefühls als Juden fühlen – oder als „psychologische Juden“, wie sie Yosef Hayim Ye rushalmi, Professor für jüdische Geschichte und Kulturwissenschaften an der Columbia University, bezeichnet. Juden, die sich über typisch jüdische Eigenschaften definieren, wie unter anderem Intellektualität und geistige Unabhängigkeit, höchste ethische und moralische Normen, Sinn für soziale Gerechtigkeit und Unbeirrbarkeit angesichts Verfolgung. Genau dazu, genau für diese Mitglieder unserer Gemeinde – und ich denke, es ist vielleicht sogar eine Mehrheit, die sich, für manche vielleicht ein wenig diffus, so als Juden definieren – wäre ein offenes, kontroverses, intellektuell anregendes Programm im Gemeindezentrum nötig. Es wäre eine Jugendarbeit nötig, die viel mehr bietet als die bestehende religiös-zionistische B’nai Akiva, der sozialistisch-zionistische Schomer oder die Sicherheitsgruppe für die Älteren. Es wäre eine Zeitung nötig, die Forum für spannende Diskurse und Diskussionen ist. Und es wäre zumindest eine gewisse Bewegung in religiösen Fragen nötig, die die durch die Shoah verursachte Erstarrung löst.
Nur wenn es die I.K.G. schafft, diese Vielfalt vielmehr zu fördern statt wie bisher zu unterdrücken, dieser Entwicklung des Geistes in bester jüdischer Tradition Eintritt in ihre Institutionen und Einrichtungen zu gewähren, lässt sich vielleicht auch in der Zukunft der Bogen einer Einheitsgemeinde spannen.