Gefährliche Camouflage

Kritik an der Politik Israels ist nicht per se antisemitisch: Eine junge Frau während einer Demonstration in Jerusalem. © RAW PIXEL/CC0 1.0

Nach zweitausend Jahren Ausgrenzung, Benachteiligung und Verfolgung erlaubt Israel eine genuin jüdische Lebensweise. Daher ist Israel der Stachel im modernen antisemitischen Geist.

Von Monika Schwarz-Friesel

Ist Kritik an Israel antisemitisch? Oder gibt es ein Kritik-Tabu, wenn es um Israel geht?

Warum werden zu diesen – doch längst einschlägig und weitgehend unisono von Experten beantworteten Fragen – heftige Streitgespräche geführt? Angesichts der jahrelangen, umfangreichen Aufklärungs- und Forschungsarbeit zu diesem Thema ist das höchst verwunderlich. Oder nicht?

Kurz zu den Antworten, die seit zwei Jahrzehnten von der Antisemitismusforschung gegeben werden: Nein, Kritik an Israel ist nicht per se antisemitisch. Ja, es gibt israelbezogenen Antisemitismus und dieser ist im 21. Jahrhundert sogar die bei weitem häufigste Form des Judenhasses.  Denn unter dem Vorwand, politische Kritik zu artikulieren, wird oft lupenreiner Antisemitismus verbreitet. Nein, es gibt weder ein Kritik-Tabu an israelischer Politik, noch halten sich die Medien bei diesem Thema zurück.

Analysen zu Konfliktberichten zeigen vielmehr, dass in Presse und öffentlichem Diskurs Israel sogar besonders oft und scharf kritisiert wird. Und sie entlarven Behauptungen vom „vorauseilenden Gehorsam“, von „Zurückhaltung“, die ein angebliches Tabu und eingeschränkte Meinungsfreiheit beklagen, als reine Phantasmen. Diese basieren auf dem unter anderem von Wilhelm Marr geprägten Stereotyp des 19. Jahrhunderts, Juden hätten in der deutschen Presse das Sagen.

Auch das Mantra, Kritik an Israel würde stets mit Antisemitismus gleichgesetzt, es bestehe eine „Hermeneutik des Verdachts“, ist empirisch widerlegt.  Doch Antisemiten wollen sich diese zeitgemäße Kommunikation nicht nehmen lassen; deshalb ist ihr Widerstand gegen Fakten und Forschung so vehement. Mittlerweile gipfelt die Abwehr gar in Verschwörungsfantasien der Art „israelbezogener Antisemitismus sei eine Erfindung, um Kritik am Zionismus zu skandalisieren“, wie ein deutscher Journalist 2020 twitterte. Extremisten und Fundamentalisten lesen dies mit großer Genugtuung.

Uralte Judenfeindschaft

Israelhass ist kein autonomes, kein wirklich neues Phänomen, sondern untrennbar gekoppelt an die uralte Judenfeindschaft, deren Tradition auf diese Weise modern fortgeführt wird. Israelbezogener Antisemitismus weist alle Merkmale des klassischen Judenhasses und auch seine Obsession auf: Die Zuordnung von erfundenen negativen Eigenschaften (wie „rachsüchtig“, „gierig“, „räuberisch“), kollektive Projektion (auf alle Jüdinnen und Juden, auf den gesamten Staat Israel), Ab- und Ausgrenzung mit einem unikalen Anspruch („größtes Übel in der Welt“) sowie absolute Entwertung („hat keine Existenzberechtigung“).

Dass Israel, als wichtigstes Symbol jüdischen Lebens in der Welt, im Fokus aller Antisemiten steht, folgt der chamäleonartigen Wandlungsdynamik von Judenhass: Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Judenfeindschaft stets den gesellschaftlichen Normen angepasst, um unter Beibehaltung des Ressentiments in der jeweils neuen Phase möglichst effektiv die Existenzformen jüdischen Lebens zu attackieren. Nach zweitausend Jahren Ausgrenzung, Benachteiligung und Verfolgung erlaubt Israel eine genuin jüdische Lebensweise.

Daher ist Israel der Stachel im modernen antisemitischen Geist. Israelbezogener Antisemitismus ist Antisemitismus, nichts anderes.

Post-Holocaust-Gesellschaft

Knapp lässt sich der auf einer bloßen Substitution basierende israelbezogene Antisemitismus erklären: Statt auf Jüdinnen und Juden beziehungsweise das Judentum, wird auf Israel referiert. Durch diese Camouflage will man sich in der Post-Holocaust-Gesellschaft gegen den Vorwurf des Antisemitismus immunisieren. Der Nahostkonflikt fungiert für diese „ehrbaren Antisemiten“ (©Jean Améry) lediglich als Vorwand und Katalysator. Abwehr und Leugnung gehören untrennbar dazu: Nie ist jemand Antisemit, auch wenn Antisemitismen produziert wurden.

Der für Judenhass typische Veränderungs-, Auslöschungs- und Erlösungswille wird auf Israel projiziert: Die eliminatorischen Forderungen verlangen je nach politischer Richtung entweder die Zerstörung, Auflösung oder die radikale Veränderung in einen multi-religiösen Staat. Und sie führen so die kulturhistorische Tradition fort, Jüdinnen und Juden als das Übel in der Welt zu sehen. Israel fungiert in diesem Prozess, wie es schon der Historiker Léon Poliakov (1910-1997) formuliert hat, als „kollektiver Jude“ und erhält alle Fantasieeigenschaften des Hasskonzeptes vom „ewigen Juden“. Die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“ zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass klassische Stereotype („Kindermörder“, „Landräuber“, „Krankheitsauslöser“) auf Israel projiziert werden, zum anderen dadurch, dass Jüdinnen und Juden überall auf der Welt kollektiv wegen des Konfliktes attackiert werden. Die IHRA-Definition konzentriert sich daher zurecht auf den israelbezogenen Antisemitismus, da dieser sich global immer weiter ausbreitet.

Ist eine nicht antisemitische Kritik an Israel problemlos möglich? Selbstverständlich. Wir sehen und hören sie regelmäßig in der Presse. Und gerade bei legitimer Kritik sehen wir den Unterschied: Politisch verantwortungs- und geschichtsbewusste Kritiker benutzen keine Derealisierungen („Genozid“, „Holocaust an den Palästinensern“), keine Hyperbeln („das schlimmste Unrecht“), keine Dämonisierungen („Teufelsstaat“) und NS- und Kolonialvergleiche („SS-Staat“, „Apartheidstaat“), keine Dehumanisierungsmetaphern („Unrat“, „Pack“) und vor allem keine judenfeindlichen Stereotype.

Sie stellen Israel nicht an einen einzigartigen Pranger oder befürworten einen Boykott wie es die israelfeindliche BDS mit ihrer Verdammungsrhetorik tut. Und sie verwenden auch keine Leugnungsstrategien wie „Ich bin kein Antisemit, aber“ oder „Dies ist Kunstfreiheit“. Dieser Rechtfertigungs- und Selbstlegitimierungszwang findet sich ausschließlich bei Personen, die unter dem Deckmantel der „Kritik“ antisemitische Inhalte artikulieren. Und so gibt es auch keine Abgrenzungsprobleme oder Grauzonen. Die Kriterien der Forschung sind eindeutig.

Israelische Politik kritisieren, das können alle jederzeit frei tun. Öffentliche Medien und soziale Netzwerke sind voll von solchen Kommentaren. Wer dies jedoch unverhältnismäßig tut und judenfeindliche Rhetorik oder offenkundig antisemitische Bilder (wie auf der Documenta 15) benutzt, der artikuliert keine Kritik, sondern Antisemitismus, und muss daher ohne Wenn und Aber mit energischem Widerspruch rechnen.

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