Selbstgespräch im israelischen Alltag.
VON ANITA HAVIV-HORINER, TEL AVIV
Eine Psychologin, die sonst im Rahmen einer Gruppe meine Träume analysiert, fragte mich am Telefon: „Hast du eigentlich schon jemals darüber nachgedacht, warum du im Krieg so viel geschrieben hast? Wieso inspirieren dich friedlichere Zeiten nicht?“ Wie immer hatte Galya ins Schwarze meiner Seele getroffen. Sofort ging ich geknickt in mich und stellte mir selbst die Frage, mit der die Therapeutin mich – in genauer Kenntnis meiner anscheinend etwas verkorksten Psyche – konfrontiert hatte.
Eigentlich war mir diese Tatsache schon selbst aufgefallen. Doch mir hatte es genügt, mich auf den Lorbeeren für meine über den Gaza-Krieg publizierten Texte auszuruhen. Außerdem erschien mir nach dem heißen Sommer die Normalität banal. Worüber sollte ich schon schreiben? Über den Alltag? Wie kann ich ausländischen Lesern, selbst meinen jüdischen Freunden, die Israel oft besuchen, diese Ruhe nach dem Sturm vermitteln? Wir Israelis sind so erprobt darin, zur Tagesordnung überzugehen, weil selbst Konflikt und Krieg für uns schon zur Routine gehören. Der heiße Sommer des Gaza-Krieges wird im Alltag verdrängt, wohl wissend, dass die nächste Runde um die Ecke auf uns wartet. Die Medien kündigen uns nach jeder Eskalation erneut an, dass es beim nächsten Mal noch viel schlimmer kommen wird.
Mein Freund Micky kommentierte diesen in Europa wohl undenkbaren Zustand mit dem ihm eigenen Humor: „Ich bin optimistisch, der nächste Krieg kommt bestimmt.“ Diesen Fatalismus hat uns die Politik der letzten Jahre eingetrichtert. Premierminister Netanyahu ist ein Meister im Schüren der – im wilden Nahen Osten durchaus berechtigten – existenziellen Ängste vieler Israelis. Damit gewinnt er seit langen Jahren Wahlen, obwohl er wahrlich keinen innen- oder gar außenpolitischen Erfolg vorweisen kann und Israel immer mehr in die internationale Isolation führt.
Zum Glück hat der Sohn meines Nachbarn wenige Wochen nach dem Ende des Gaza-Krieges geheiratet. Das rauschende Fest holte mich zurück auf den Boden des „Niemandslandes unserer Normalität“, wie es Journalist Asher Schechter nannte. „Der Krieg ist vorbei, Israel kann nun wie immer den Krieg ignorieren“, lautet der Titel seines Artikels in der Tageszeitung Haaretz.
Die Hochzeit riss mich aus meiner Schreiblethargie. Schon das Setting war inspirierend. Als ich in den riesigen Garten eintrat, glaubte ich mich in Hollywood. Dort war ich zwar noch nie, doch genauso stelle ich es mir vor. Außerdem entsinne ich mich der Seifenoper Reich und schön, die für meine Tochter und mich jahrelang gemeinsame „Quality Time“ darstellte. Dort schwebten auch weibliche Schönheiten perfekt geschminkt über den gepflegten Rasen oder saßen auf spielerisch verteilten Bänken, während unsichtbare Kellner den Gästen Drinks in die Hände zauberten. Dieses filmreife Tableau bewunderte ich in einem von idealistischen Pionieren gegründeten Kibbuz.
Unter der Chuppa
„Aaamerika“. Wenn Israelis „Aaamerika“ sagen – mit der langen Betonung auf dem „A“ – ist es ein Synonym für Schlaraffenland. Dort gibt es ja bekanntlich auch keine Kriege.
Unter der Chuppa, dem Traubaldachin, wurde es eng, die Brautleute, ihre Eltern, Großeltern und der Rabbiner lächelten die zahlreichen Gäste unter dem symbolischen Dach an. Israelis und auch Israelinnen lieben die Familie und das Kollektiv, letzteres auch gerne ohne die sozialistischen Ideale der Gründergeneration.
Der Rabbiner verkündete die zentrale Botschaft jeder jüdischen Hochzeit: „Nun gründet ihr eine neue Familie und seid damit der Garant für die Kontinuität des jüdischen Volkes.“ Dieser verantwortungsvollen Aufgabe wollte sich der Bräutigam nicht entziehen, deshalb zerbrach er ein Glas im Gedenken an die Zerstörung des Tempels durch die Römer. Die jüdische Erinnerung an Kriege geht eben sehr weit zurück, auch – und gerade – bei Familienfeiern.
Allerdings pochte die junge Generation nach der salbungsvollen Zeremonie durch lautes Singen auf das Hier und Jetzt. Im Saal ging die Party weiter. Das bekannte Repertoire israelischer Schnulzen wurde abgespult. Das sind in Israel nicht nur Liebeslieder, viele der Hits sind patriotisch, und manche wenden sich auch direkt an den lieben Gott. Ein Song trägt den betrüblichen, doch wahrheitsgetreuen Titel „Ich habe kein anderes Land, auch wenn meine Erde brennt“. Wie immer bei israelischen Hochzeiten fiel mir auf, wie grenzenlos ausgelassen und voll sprühender Lebensfreude die Stimmung war. Als ob viele der anwesenden jungen Menschen – einschließlich des Bräutigams – nicht erst vor wenigen Wochen in Gaza gekämpft hätten, als ob es kein Gestern und kein Morgen gäbe.
Die Rückkehr zur israelischen „Normalität“ schärfte wieder meinen durch den Krieg getrübten Blick für die Dissonanzen des „friedlichen“ Alltags. So beobachtete ich den aus Äthiopien stammenden jungen Kellner, der am Dessertbuffet hinter einem Berg von Schlagsahne fast verschwand. Im Gegensatz zur Hochzeitsgesellschaft schaute er traurig drein. Experten bezeichnen die Armen des Landes dezent als das „zweite Israel“. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass an diesem Abend nur dem „ersten Israel” zum Feiern zumute war.
Als weiteren Höhepunkt des Festes führten die frisch Vermählten auf drei riesigen Leinwänden ihren Hochzeitsfilm vor. Sie hatten die lustige Idee gehabt, sich selbst als Rückschau haltendes altes Paar darzustellen. Ihre Selbstinszenierung spiegelte die Lebensläufe vieler junger Menschen in Israel wider.
Rachel und Avi kennen sich seit ihrer Schulzeit. Eines ihrer gemeinsamen Erlebnisse war die Klassenfahrt nach Auschwitz, die durch das Schild „Arbeit macht frei“ diskret im Film angedeutet wurde. Schließlich wollte man die gute Stimmung nicht verderben, das Thema ganz auszublenden erschien der Regie aber offenbar auch nicht richtig.
Danach konnte man die Brautleute in ihren Armeeuniformen bewundern. Der Beitrag zur Sicherheit des Landes wurde als ein zentraler Meilenstein ihrer Biografien hervorgehoben. In der nächsten Szene jammerten die beiden Alten, wie schwierig es in ihrer Jugend gewesen sei, neben dem Studium immer Vollzeit gearbeitet zu haben. Auch keine Seltenheit für junge Menschen in Israel.
Saure Trauben
Beim Abschied gab mir die Oma der Braut noch eine Dosis biografischen Geschichtsunterricht mit auf den Heimweg. „Als wir in den 50er-Jahren aus dem Irak nach Israel eingewandert sind, hatten wir nichts. Wir hausten in Baracken. Heute haben wir alles, was wir brauchen. Doch das Einzige, was zählt, sind die Kinder.“
Ohne es zu wissen, paraphrasierte die alte Dame Ephraim Kishon, der selbst eine Weisheit aus der Thora aktualisiert hatte: „Israel ist ein Land, in dem die Väter saure Trauben gegessen haben, damit die Kinder gesunde Zähne bekommen.“ Ich fragte mich, ob die junge Generation – trotz aller Lebenslust – eigentlich nicht auch noch recht saure Trauben verzehren muss.
Als ich zu Hause meinem Sohn diesen Text vorlas, dekonstruierte er ihn Stück für Stück mit dem seinen Eltern vorbehaltenen ironisch-toleranten Lächeln: „Das sind doch nur deine Projektionen. Wie kannst du wissen, dass die Tanzenden den Krieg verdrängt haben? Warum bist du dir eigentlich so sicher, dass der Kellner betrübt war? Hast du ihn etwa gefragt?“
„Nein, habe ich nicht“, musste ich der Wahrheit halber zugeben… Schon wieder die Psychologie… Tja, es ist eben einfacher zu versuchen, sich in die Seele anderer hineinzuversetzen, als auf Galyas schmerzliche Frage eine Antwort zu finden.
Außerdem muss ich mich der unbequemen Bohrerei jetzt nicht mehr stellen. Denn mein Freund Micky hat leider recht behalten: Nur wenige Wochen nach dem Krieg im Süden ist die nächste Eskalation schon eingetreten… Sie könnte in der Tat noch schlimmer werden als die vorherige, denn diesmal wird in Jerusalem gezündelt. Dem Niemandsland der israelischen Normalität sind beängstigend enge Grenzen gesteckt und Aaaaamerika rückt immer mehr in die Ferne… – nicht nur geografisch.