Die Künstlerin Elisabeth Wild (1922–2020) musste als Mädchen aus Österreich fliehen. Nun ist ihr spannendes Œuvre im Zuge einer Retrospektive nach Wien zurückgekehrt.
VON NICOLE SCHEYERER
Sie musste bis zu ihrem 95. Lebensjahr warten, bis sie als Künstlerin „entdeckt“ wurde. In der Retrospektive Fantasiefabrik präsentiert das Mumok aktuell die Zeichnungen, Gemälde und Collagen der 1922 in Wien geborenen Elisabeth Wild. Emigration und das Ringen um weibliche Selbstbehauptung prägten das Leben der Künstlerin, deren Werke nun erstmals hierzulande zu sehen sind.
Keine Flucht aus Europa, bevor die Tochter nicht den Markusplatz gesehen hat: Wilds Eltern hatten Wien bereits 1938 in Richtung Zagreb verlassen und planten dort ihre weitere Flucht. Dank einer „Donation“ an einen argentinischen Ex-Politiker erhielt die Familie Visa für das südamerikanische Land. Auf ihrer Route nach Rotterdam machten sie aber noch einen Umweg, um ihrer „Liesl“ Venedig zu zeigen. Wer wusste schon, ob sie jemals zurückkehren würden?
Der Vater der Künstlerin war ein erfolgreicher Wiener Weinhändler und wollte anfangs nicht glauben, dass er wegen seiner jüdischen Konfession aus der Heimat fliehen musste. „Aber ich bin doch Österreicher, habe meinem Land als Soldat gedient“, entgegnete er seiner katholischen Frau, die es zum Glück besser wusste.
In Argentinien hatte es die Familie finanziell schwer, aber die 17-jährige Elisabeth blühte in Buenos Aires auf. Um ihre Eltern zu unterstützen, arbeitete sie als Nanny, brachte dem Nachwuchs reicher Familien Französisch bei und bemalte Kinderzimmer mit Fantasielandschaften. Ein Teil ihrer Einkünfte floss in Zeichenunterricht, den die junge Frau am Circulo des Bellas Artes bei dem österreichischen Genre- und Historienmaler Leo Bernhard Eichhorn nahm. Im Mumok sind einige der Aktgemälde und Stillleben zu sehen, mit denen sie an Ausstellungen in Buenos Aires und Mar del Plata teilnahm.
Um ihren Lebensunterhalt aufzubessern, entwarf die talentierte Kunststudentin Stoffmuster. Mit einer Mappe voller Designs bewarb sie sich in einer Textildruckerei. Deren Besitzer August Wild stammte aus der Schweiz und lebte schon lange in Argentinien. Die viel jüngere Österreicherin gefiel ihm sofort, er machte ihr den Hof und bald folgte die Verlobung. Wilds mal exotisch, mal geometrische Stoffmuster gingen in Druck und sind nun auch Teil der Retrospektive.
Die Wilds freuten sich 1949 über die Geburt ihrer Tochter Vivian, auch das Geschäft florierte. Aber auch in der Neuen Welt überschatteten bald rechtsradikale Kräfte das Glück. Der wachsende Antisemitismus veranlasste die Familie 1962 nach Basel auszuwandern. Wild fühlte sich in der Schweiz fremd; schließlich eröffnete sie ein Antiquitätengeschäft und baute sich einen neuen Bekanntenkreis auf. In Kursen lernte die Künstlerin das Restaurieren. Zur Akquise fuhr sie immer wieder auch nach Wien, wohin ihre Eltern aus Buenos Aires zurückgekehrt waren.
Als ihre Tochter 1982 nach Guatemala auswanderte, reiste Wild wieder regelmäßig nach Lateinamerika. „Es machte ihr große Freude, wieder spanisch zu sprechen“, erzählte Vivian Suter, die anlässlich ihrer eigenen Soloschau in der Secession in Wien war. Was für ein Glücksfall, dass die beiden Ausstellungen von Mutter und Tochter trotz aller Corona-Verschiebungen in Wien laufen.
Im Jahr 1996 brach Elisabeth ihre Zelte in Basel ab und übersiedelte zu Vivian ins guatemaltekische Hochland Panajachel. Mit der Hilfe ihrer Mutter hatte Suter auf dem Gelände einer ehemaligen Kaffeeplantage ein Grundstück erworben. Beide Frauen widmeten sich fortan der Malerei, aber Wild blieb nach einem Sturz an den Rollstuhl gefesselt.
Der Dokumentarfilm Vivian’s Garden zeigt das Zusammenleben der beiden Frauen in einer dschungelartigen Umgebung. Nach einem verheerenden Sturm, der Suters Gemälde im Schlamm begrub, wurde sie zur Freilichtmalerin. Ihre Mutter lebte in einem bescheidenen Häuschen, das im Mumok nun aus Karton nachgebaut wurde. An den Pappwänden hängen all die Bilder und Erinnerungsstücke, mit denen die Künstlerin lebte. Auffällig ist die surrealistische Neigung, die ihre besten Gemälde auszeichnet.
Im Alter von fast neunzig Jahren entdeckte Wild in der Collage ein neues Ausdrucksmittel. Anstatt zum Pinsel griff sie nun zur Schere und machte sich über Hochglanzmagazine her. Aus dem Material klebte die Künstlerin Fantasías, wie sie die kaleidoskopischen Bilder im A4-Format nannte. Mit ihren Architekturcapriccios wurde Wild 2017 auf der Documenta 14 in Athen und Kassel präsentiert. Was das Publikum bei den knallbunten Kompositionen am meisten verwunderte, war die Info zu dem unbekannten Namen: „Geboren 1922 in Wien“.
„Bis zu ihrem Tod produzierte sie täglich ein Bild. Wenn sie einmal keine Collage schaffte, dann machte sie am nächsten Tag zwei“, erzählt Mumok-Kuratorin Marianne Dobner, die 2020 nach Guatemala gereist war, um mit der Künstlerin 365 Collagen für die jetzige Schau auszuwählen. Wild hätte sich besonders über den geplanten Ausstellungskatalog gefreut; eine Woche nach dem Besuch aus Wien verstarb sie. Elisabeth Wild nahm im Vertrauen Abschied, dass ihr Werk für die Nachwelt gesichert ist.
„Elisabeth Wild. Fantasiefabrik“, mumok, bis zum 7. Jänner 2024