Iddo Netanyahu ist Arzt, Dramatiker und Autor. Sein jüngstes Buch Itamar K. ist eine Satire über die linke Kulturindustrie. Er ist auch der jüngere Bruder des israelischen Langzeitpremiers Benjamin Netanyahu. Gerhard Jelinek hat Iddo Netanyahu in Wien zum Interview getroffen.
Von Gerhard Jelinek
NU: Herr Netanyahu, wir sitzen hier an der Wiener Ringstraße, dem sogenannten „jüdischen Boulevard“ der Jahrhundertwende. In Wien lebten damals fast 200.000 Juden, nicht alle waren so wohlhabend wie die Erbauer vieler Ringstraßen-Palais. Der Journalist und Schriftsteller Theodor Herzl entwickelte damals einen Plan für einen jüdischen Nationalstaat: Israel.
Netanyahu: Herzl sah die Gefahr des Antisemitismus sehr klar. Er spürte, dass der Antisemitismus nicht einfach ein politisches Phänomen war, sondern ein tief verwurzeltes Gefühl, das in der Gesellschaft lebte – ein uraltes Vorurteil, das nicht verschwinden würde. Er wusste, dass eines Tages eine Katastrophe kommen würde, und dass die Juden aus Europa fliehen müssten, um sich zu retten. Er sagte damals: ‚Man kann den Antisemitismus nicht aufhalten, man kann die Antisemiten nicht überzeugen. Das Einzige, was man tun kann, ist, das jüdische Volk aus Europa herauszuführen – in ein eigenes Land, wo es sich verteidigen kann.‘
NU: Viele von Theodor Herzls jüdischen Zeitgenossen in Wien belächelten die Ideen, die er in seinem Buch Der Judenstaat entwickelt hat. Das Büchlein wurde damals übrigens kein Bestseller. Es wurden nur ein paar Hundert Stück verkauft. Herzls Projekt durfte in der Neuen Freien Presse, wo er Feuilletonchef war, nicht erwähnt werden. Wiens assimilierte Juden machten sich über die Idee lustig, weil sie so seltsam klang.
Netanyahu: Sie glaubten nicht, dass ein eigener jüdischer Staat möglich oder notwendig sei. Schon vor Herzl hatte ein anderer jüdischer Denker diese Gefahr erkannt – Leon Pinsker. Er war Arzt in Odessa. Nach den schrecklichen Pogromen von 1881 verfasste er eine Schrift mit dem Titel Autoemanzipation. Darin sagte er ganz klar: ‚Der Antisemitismus ist eine psychische Krankheit der Völker. Er ist nicht zu heilen.‘ Er versuchte, den Wiener Oberrabbiner von der entsetzlichen Gefahr des Antisemitismus zu überzeugen, fand aber bei ihm kein Gehör.
NU: Heute erleben wir, dass sich der Antisemitismus neue Formen sucht. Er tritt an Orten auf, an denen man ihn früher nie vermutet hätte – etwa an amerikanischen Elite-Universitäten. Dort, wo einst die Ideen der Aufklärung, der Freiheit und der Toleranz herrschten, entstehen heute Bewegungen, die sich gegen Israel richten und Juden offen anfeinden.
Netanyahu: Die radikalen muslimischen Bewegungen verbinden sich mit Teilen der extremen Linken. Diese Gruppen teilen eine gemeinsame Haltung – sie sind anti-westlich, anti-kapitalistisch und zunehmend auch antisemitisch. Sie betrachten Israel als verlängerten Arm des Westens, als vermeintlichen Unterdrücker. Dabei ist das, was sie als ‚antikolonialen Kampf‘ bezeichnen, in Wahrheit ein Angriff auf die Existenz des jüdischen Staates. In ihrem Narrativ werden Israel und das jüdische Volk als „Kolonialmacht“ dargestellt – eine absurde Erzählung, wenn man bedenkt, dass die Juden schlicht in ihre historische Heimat zurückgekehrt sind, an der sie nie aufgehört haben festzuhalten. In der arabischen Welt ist Judenhass tief verwurzelt. Bücher wie Mein Kampf oder die Protokolle der Weisen von Zion sind dort noch immer Bestseller. Antisemitismus wird in Schulbüchern gelehrt und in Moscheen gepredigt. Das ist keine politische Meinung – es ist ein kulturelles Muster. Was Europa betrifft, fürchte ich, dass europäische Politiker die Gefahr des radikalen Islam nicht ernst genug nehmen. Mit der Vereinigung der „postkolonialen“ Linken und dem religiösen Fanatismus des Islamismus könnte Europa zugrunde gehen.
NU: Seit Jahrzehnten wird die sogenannte „Zwei-Staaten-Lösung“ als Weg zum Frieden im Nahen Osten propagiert. Es ist beinahe eine Art Dogma geworden. Ist dieses Modell nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober in irgendeiner Form realistisch?
Netanyahu: Das sogenannte ‚Zwei-Staaten-Modell‘ ist keine Lösung, sondern ein Rezept für neue Katastrophen. Schaut euch den Gazastreifen an: Er wurde nach dem Abzug Israels 2005 de facto ein Staat, doch stattdessen entwickelte er sich zur Brutstätte des Terrors. Wenn Europa glaubt, man könne direkt neben Tel Aviv einen radikalen Palästinenserstaat gründen, dann sollen sie es selbst versuchen, vielleicht zuerst neben Wien.
NU: Gibt es denn ein anderes Konzept für den Frieden im Nahen Osten?
Netanyahu: Meine Antwort ist klar: Frieden, besonders im Nahen Osten, erreicht man nur aus einer Position der Stärke – niemals durch Nachgiebigkeit. Nur militärische Macht kann Israel schützen. Alle anderen Versprechen sind Illusionen. Ich kritisiere die Schwäche der europäischen Staaten. Ihre Politiker wollen keine Probleme lösen, sondern sie vertagen – in der Hoffnung, dass sie selbst die Folgen nicht mehr erleben. Europa hat seit dem Ersten Weltkrieg, bestimmt aber seit dem Zweiten Weltkrieg, an Stärke verloren. Es ist moralisch müde geworden. Und trotzdem: Ich hoffe immer noch, dass die Werte Europas – Freiheit und Humanismus – nicht ganz verschwinden. Diese Werte sind das Beste, was die europäische Zivilisation hervorgebracht hat. Aber sie allein werden den Juden nicht schützen. Für Juden in Europa sehe ich keine Zukunft. Es wird kein zweiter Holocaust kommen, aber ein Leben in ständiger Angst – zum Beispiel, wenn man nicht offen eine Kippa oder einen Davidstern tragen kann – ist kein würdiges Leben. Ich verstehe nicht, warum ein Jude unter solchen Umständen in Europa bleiben will, wenn er in Israel frei und sicher leben kann. Für uns Juden gibt es nur eine Lösung: Israel.
NU: Fühlen Sie sich persönlich hier in Wien, in Europa, zurzeit sicher?
Netanyahu: Ich selbst brauche Sicherheit – wegen meines Namens. Es geht aber nicht um meine persönliche Sicherheit. Es geht darum, was passieren wird. Wird sich Europa verändern? Ich würde sagen: Die Kombination aus Linksideologien, die sich mit dem radikalen Islam verbünden – wie es derzeit im Westen geschieht –, ist eine äußerst gefährliche Entwicklung, besonders für die Juden im Westen. Ich kann mir keine gefährlichere Situation vorstellen. Die Juden werden die Ersten sein, die leiden, wenn sich diese Kräfte zusammenschließen und die Macht übernehmen. Hoffen wir, dass es in Europa eine Gegenreaktion gibt, die verhindert, dass sie die Kontrolle übernehmen.
NU: Glauben Sie, dass das Waffenstillstandsabkommen, das Donald Trump durchgesetzt hat, eine Chance auf Bestand hat?
Netanyahu: Trump nannte es Frieden. Ich weiß nicht, was es genau ist. Es hängt davon ab, wie man Frieden definiert. Frieden kann ein „erzwungener“ Frieden sein, ein Frieden durch Stärke – und das ist hoffentlich das, was gerade in Gaza geschieht. Es ist ja nicht so, dass die Bevölkerung des Gazastreifens mit uns in Frieden leben will. Sie wollen uns vernichten. Nicht alle, aber die überwiegende Mehrheit. Daran besteht kein Zweifel. Solange sie nicht die Mittel dazu haben, kann man eine Art positiven Frieden erzwingen – durch Israels Stärke. Wenn es gelingt, die Hamas zu entwaffnen und einen Gazastreifen zu schaffen, der völlig ohne Waffen ist, dann kann man eine Situation der Ruhe herstellen. Das ist möglich. Ich glaube aber momentan nicht, dass das geschehen wird, weil die Hamas ihre Waffen nicht aufgeben will. Man müsste jedenfalls den gesamten Gazastreifen entwaffnen, und das ist keine leichte Aufgabe. Ich denke, letztlich wird es wahrscheinlich mit Gewalt geschehen müssen – hoffentlich nicht. Aber es wird ein Frieden sein, der durch Macht und Stärke entsteht. Einen anderen Frieden gibt es im Nahen Osten nicht. Selbst zwischen den arabischen Staaten gibt es keinen anderen Frieden – nur einen Frieden durch Stärke. Keinen anderen. Das war der große Irrtum der Leute um Chamberlain – sie glaubten, sie könnten Hitler beschwichtigen. Meiner Ansicht nach kann Israel nur überleben, wenn es Stärke – insbesondere militärische Stärke – zeigt. Dasselbe gilt für den Nahen Osten. Der Grund, warum Ägypten den Vertrag mit uns unterzeichnet hat, war unsere militärische Stärke, kein anderer.
NU: Im kommenden Jahr wird in Israel gewählt. Hat ihr Bruder noch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich? Es hat ja Massenproteste gegen die Politik der Rechtskoalition unter LIKUD-Führung gegeben?
Netanyahu: Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem Premierminister, sonst wäre er nicht im Amt. Natürlich sind Wahlen immer unvorhersehbar, aber ich glaube, dass die Rechte sie gewinnen wird. Die alte Arbeiterpartei Israels, einst die stärkste Kraft im Land, hat an Bedeutung verloren, weil sie sich zu weit nach links bewegt hat – genau wie Teile der Sozialdemokratie in Europa. Je mehr Einfluss die radikalen Elemente genommen haben, desto schwächer wurden diese Parteien. Die extreme Linke hat sich von der Bevölkerung entfremdet, weil sie mehr über eine utopische Ideologie spricht als über Realität. Wir sehen das heute auch bei der Demokratischen Partei in Amerika. Auch die Medien tragen eine Mitschuld. In den 1990er-Jahren, während der verhängnisvollen Oslo-Verträge, wurden rechte Stimmen in Israel systematisch an den Rand gedrängt; dadurch unterstützte die Mehrheit der Bevölkerung die Abkommen, weil sie kaum etwas anderes zu hören bekam. Doch dann erschütterten die täglichen Selbstmordanschläge die Straßen, man erkannte, dass das Ganze eine Farce war, und wandte sich von den Parteien ab, die uns Oslo beschert hatten. Zuvor jedoch wurden diejenigen diffamiert, die dem Mainstream nicht folgten. Deshalb habe ich meinen Roman geschrieben – als Satire über die Steuerung der öffentlichen Meinung, über Cancel-Culture und die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.
NU: Eine geplante Lesung in Berlin wurde abgesagt – sie wurden ‚gecancelt‘.
Netanyahu: Ironischerweise ein Beweis dafür, dass das, wovor ich im Buch warne, tatsächlich geschieht.
NU: Sie waren drei Brüder. Der älteste, Yonathan, wurde 1976 als Offizier der IDF getötet, als er die Befreiung von 102 Geiseln aus einem von palästinensischen und deutschen Terroristen entführten Air France Flugzeug in Entebbe leitete. Ihr Bruder Benjamin ist längstdienender Ministerpräsident Israels, sie sind Arzt und Autor. Unterstützen Sie die Politik Ihres Bruders?
Netanyahu: Mein Bruder braucht meine Unterstützung nicht, aber ja, natürlich unterstütze ich ihn und bin im regelmäßigen Austausch mit ihm. Mein Bruder könnte seine Arbeit nicht weiterführen, hätte er nicht so ein starkes Commitment für den Erfolg und das Überleben Israels.
NU: Der Name Netanyahu, was soll einst in den Geschichtsbüchern stehen?
Netanyahu: Hoffentlich wird die Geschichte die Wahrheit wiedergeben. Mein Großvater, Natan Milikowski, war ein großer Zionist. Er machte die Bewegung in Polen und darüber hinaus populär und hielt überall Reden, um Juden für die Idee eines eigenen Staates zu gewinnen. Mein Vater widmete bis zur Gründung des Staates Israel seine Zeit der zionistischen Sache. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, Teil dieser Familie zu sein. Wie die Geschichte Bibi Netanyahu bewerten wird, weiß ich nicht. Das wird die Zeit zeigen. Aber ich glaube, dass eines Tages verstanden wird, welchen Beitrag er für Israel und für das Überleben des Westens geleistet hat – wenn der Westen überleben sollte.

