Fluchtsignale

Der Schrein Bahá’u’lláhs in Akko zählt, wie das Grabmal des Báb mit den Gärten in Haifa, zum UNESCO-Weltkulturerbe. © MARCO ABRAR/GFDL, CC-BY-SA-2.5

Der Bahá’í-Glaube entstand im späten 19. Jahrhundert im Iran. Doch nach der Machtübernahme der Ayatollahs gehörten die Bahá’í, ebenso wie Juden, Christen und Zoroastrier, zu einer verfolgten Minderheit. Splitter einer iranischen Familiengeschichte.

Von Dominik Kamalzadeh

Ein Dialog aus der Ferne. „Mein Vater sagte: ,Geh und komme nie zurück! Solange die Ayatollahs an der Macht sind, hast du hier keinen Platz. Nimm deine Familie und komme nie zurück.‘“ So lapidar erzählt mir das mein Onkel Khosrow. Er ist gerade auf Kreuzfahrt im Mittelmeer, über die griechischen Inseln, nächster Stopp Istanbul. Das richtige oder das falsche Setting, um über Flucht zu sprechen? Ich frage: „Hast du ihn wiedergesehen?“ – „Nein, ich habe ihn nie wiedergesehen. Er sagte: ‚Selbst wenn ich sterbe, komm nie hierher zurück. ’“ „Und deine Mutter?“, wieder ich. – „Ja, ihr wollte man zuerst keinen Pass geben, nach einigen Jahren ist es uns aber gelungen, sie in die USA zu bringen. Sie ist dann in Phoenix gestorben.“

Das Merkwürdige an solchen bezeugten Erinnerungen: Ich kann sie verstehen, wenn ich den Fakten folge, weil sie sich wie die Erinnerungen vieler Vertriebener anhören. Aber kann ich verstehen, was sie bedeuten? Wie fühlt es sich an, wenn man die Entscheidung trifft, sein Land und seine Eltern zu verlassen, vielleicht für immer? Schaut man in einen Spiegel und sagt sich, jetzt reicht’s? Mir fällt ein Moment im Interview mit William T. Vollmann ein. Es ging um seinen Roman Europe Central, um Menschen, die den Mut besaßen, die Front zu wechseln, unter Lebensgefahr. Das konnte ich damals auch nicht „verstehen“. Vollmann erwiderte auf meine Fragen mit einer Gegenfrage: „What would you do?“ Es genügt vielleicht, sich diese Frage zu stellen.

Mein Onkel ist das Familienoberhaupt, sage ich gerne, natürlich im informellen Sinne. Gütig, freundlich, selbstlos… Ich kenne niemanden, der ihm moralisch das Wasser reichen kann. 1979, im Jahr der Islamischen Revolution, arbeitete er als Arzt in Abadan im Südwesten des Iran. Fünfzig Kilometer vom Persischen Golf entfernt, der Irak in Gehweite, ist die Stadt ein industrielles Zentrum. Hier steht eine der größten Ölraffinerien der Welt. Alle in Abadan hätten damals dort gearbeitet, erzählt Khosrow. Nach der Revolution habe man dann aber damit begonnen, die Andersgläubigen auszusortieren. Als Bahá’í stand er auf der Liste.

Dann begann der Krieg gegen den Irak, und man brauchte ihn an der Front. Khosrow erhielt Bewährungszeit, die Untersuchung wurde gestoppt. Sein Haus wurde bombardiert, die Hälfte davon zerstört. „Das war das Signal. Ich habe den Glauben an eine Zukunft für meine Kinder verloren und mich entschieden, das Land zu verlassen.“ Er verwendet das Wort „proaktiv“: vorausschauend.

Wie kleine Räder

„What would you do?“ Ein Interview mit dem Schriftsteller Navid Kermani, es ist September 2022, der Anlass sind die Proteste im Iran. Kermani spricht vom Mut einer neuen Generation, von den Frauen und der Jugend, den beiden inhaftierten Filmregisseuren Jafar Panahi und Mohammad Rasulof, und er erwähnt die Bahá’í-Gemeinde, von der viele trotz Verfolgung und Diskriminierung im Iran geblieben seien.

Ich frage Khosrow, wie man unter den Bahá’í die verwirrende Lage nach der Revolution eingeschätzte. Gab es klare Botschaften? Handlungsanweisungen? Das Zentrum der Bahá’í, das Universale Haus der Gerechtigkeit, steht in Haifa in Israel. „Von dort kamen schon damals die Direktiven“, sagt er. „Sie haben damals alle Bahá’í ermutigt zu bleiben. Sie haben nicht davon abgeraten zu gehen, aber sie wollten natürlich, dass es auch im Iran weiterhin Bahá’í gibt.“

Die Unterdrückungsmechanismen nach 1979 muss man sich wie kleine Räder vorstellen, die immer größere Maschinerien in Gang setzten. Alle, die an öffentlichen Stellen arbeiteten, verloren ihre Jobs, erzählt Khosrow. Arbeitslosenzahlungen wurden natürlich keine gewährt. Wem es möglich war, der wich in die Privatwirtschaft aus, doch auch dort stieg der Druck der Regierung, Bahá’í und andere Angehörige von Minderheiten, Jüdinnen und Juden, Christen und Zoroastrier loszuwerden. Betroffen war auch meine Tante Manijeh, die Schwester meines Vaters, die die Wirtschaftsbibliothek in Teheran leitete. Sie harrte ein wenig länger im postrevolutionären Iran aus, weil ihr Mann Sadegh Muslim war. Aber auch das half nicht.

Der Angriff auf die Bahá’í-Gemeinde habe viele Formen angenommen, schreibt der Historiker Firuz Kazemzadeh in einer Publikation der New School for Social Research. Mit Grausamkeit sei man gegen die Spitze vorgegangen: 200 prominente Personen der National Spiritual Assembly wurden in den ersten Jahren nach dem Umsturz ermordet oder verschwanden spurlos. „Danach begannen sie, den Ring immer enger zu ziehen“, erzählt Khosrow. Geschäfte wurden zerstört, den Kindern der Bahá’í untersagte man, Universitäten zu besuchen. „Man musste seinen Glauben verleugnen.“ Das sei bis heute nicht anders.

Besser verstehen wollen

Für mich blieb der Iran lange ein schlecht auflösendes Nachrichtenbild im Fernsehen, vor dem mein Vater Kiumars saß und langsam den Kopf schüttelte, die Zunge am Gaumen schnalzend. 40 Sekunden, manchmal zwei Minuten lang durfte niemand etwas sagen. Anders als der Rest der Familie war er schon in den 1960er Jahren nach Wien gekommen, um Medizin zu studieren. Im Süden Europas, ob in Italien oder Griechenland, glaubte er manchmal, seine einstige Heimat wie eine Fata Morgana wiederzusehen. Der Iran war überall, wo es heiß und schön war. Die Erinnerung an einen Ort, an dem man sogar mit John Wayne, Monty Clift oder Randolph Scott aufwachsen konnte. Die Liebe zum Kino, habe ich spät erkannt, erreichte mich auch über ihn.

Khosrow hat in den USA nie aufgehört, die Lage im Iran zu verfolgen. „Die meisten, die in den letzten Wochen auf den Straßen umgebracht wurden, waren nicht älter als 21 oder 22 Jahre. Manche waren auch nur 16. Es ist eine junge Generation, die dieses Regime nicht mehr erträgt. Ich bewundere sie sehr.“ Obwohl er überzeugt ist, dass die Courage eine neue Qualität erreicht hat („Es fühlt sich anders an“), ist sein Optimismus nicht sehr groß. Die Frauen, sage ich zu ihm, würden doch durch eine neue internationale „awareness“ gestärkt, das werde nicht so schnell verschwinden. „Ich fürchte, die internationale Politik spielt immer noch die zentrale Rolle“, antwortet er. „Ich kenne das alles schon zu lange. Wenn ich US-Präsident wäre, würde ich mich mit dem iranischen Präsidenten nicht einmal treffen. Sie hatten in der UNO Lunch, und das nennen sie dann Protest.“

Vielleicht sollte ich mit jemand anderem reden, sagt Khosrow am Ende. Mit jemandem, der gefoltert, eingesperrt wurde. Nein, sage ich, es gehe um keine besonders haarsträubende Geschichte. Ich wollte nur etwas besser verstehen, wie man eine schwierige Entscheidung trifft. Seine Antwort ist kurz: „That’s life.“ Nur wenn er von der Gegenwart redet, steigt seine Erregung spürbar. What would you do?

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