Die wichtigste Fluchtroute der Nazis über die Alpen nach Südtirol, Italien, Südamerika oder in den Nahen Osten hieß „Klosterlinie“. Nomen est omen. Viele Einrichtungen der katholischen Kirche boten tausenden Kriegsverbrechern, Nazi-Bonzen, Ustascha-Leuten, ukrainischen und französischen Kollaborateuren Zuflucht und Unterschlupf.
Von Fritz Rubin-Bittmann
Wichtige Forschungen über diese Fluchtbewegungen sind Simon Wiesenthal zu verdanken. Seinen Recherchen zufolge ist die Liste der KZ-Kommandanten und Massenmörder lang, die sich auf diese Weise der Verfolgung und Verurteilung durch die Gerichte entziehen konnten. „Klosterlinie“ hieß diese Fluchtlinie wegen der vielen Klöster und Abteien, die als Fluchtstationen dienten. Darunter war das Franziskaner-Kloster in Bozen für Adolf Eichmann ein sicheres Refugium, wo er durch einen katholischen Priester eine neue Identität als Riccardo Klement erhielt. Das Kapuziner-Kloster in Brixen, die deutsche Abtei in Meran, die Abtei in Marienburg und weitere kirchliche Zufluchtsstätten boten den Nationalsozialisten Schutz und sichere Unterkunft. Ab 1947 bedienten sich alliierte Geheimdienste im Kampf gegen den Kommunismus führender Nationalsozialisten und benutzten ebendiese Fluchtwege, die sie die „Rattenlinie“ nannten.
Simon Wiesenthal sprach auch vom Römischen Weg und der Vatikan-Linie, da die Fluchtroute über die Alpen im Vatikan endete. Mitte der 1960er Jahre hielt Wiesenthal im Club der Wiener Zionistischen Jugendorganisation Israel Hatzirah einen fulminanten Vortrag über seine Tätigkeit und Recherchen über Fluchtwege und Fluchthelfer der Nationalsozialisten. Seine akribischen Recherchen sind bis dato umfassend und unübertroffen.
Zwei hohe Priester
Bischof Alois Hudal und der kroatische Franziskaner-Priester Krunoslav Draganović waren die wichtigsten Organisatoren dieser Fluchtrouten. Es gab eine klare Aufgabenteilung zwischen den beiden Priestern: Hudal war für die Nationalsozialisten zuständig, Draganović für die Ustascha-Verbrecher. Sie hatten das Pouvoir von Pius XII. und erhielten Unterstützung von zahlreichen katholischen Stellen, hochrangigen katholischen Priestern sowie durch das von Pius XII. ins Leben gerufene päpstliche Hilfswerk PCA (Pontificio Commissionis Assistentia), das vatikanische Kardinals-Sekretariat, das Römische Rote Kreuz und die Caritas. Sie kollaborierten mit nationalsozialistischen Seilschaften, unter anderem mit der von Otto Skorzeny, dem Befreier Mussolinis, geführten ODESSA (Organisation der SS-Leute) und der „Stillen Hilfe“, einer Organisation privater Sympathisanten Hitlers. Ein wichtiger Unterstützer war Erzbischof Siri von Genua, dem die katholische Taufe protestantischer Verbrecher am Herzen lag. Der Protestant Eichmann konvertierte aus Dank zum Katholizismus. In israelischer Haft schrieb er 1961, dass die Hilfe von katholischen Priestern unerwartet war – sie halfen, ohne zu fragen, was ihn sehr beeindruckte.
Für Simon Wiesenthal war Bischof Alois Hudal, Rektor des deutschsprachigen Priester-Kollegs St. Anima in Rom, ein überzeugter Nationalsozialist. Hudal hatte bereits 1937 in einem Buch eine Allianz von Kirche und Nationalsozialismus gefordert, um gemeinsam den „jüdischen Bolschewismus“ zu bekämpfen. Eine Symbiose von Kreuz und Hakenkreuz sei nötig, um im gemeinsamen Kampf siegreich zu sein, so Hudal. Ein Exemplar seines Buches „Die Grundlagen des Nationalsozialismus“ widmete er in überschwänglichen Formulierungen Adolf Hitler, dem „modernen Siegfried der Deutschen Nation“. Hitler dankte Hudal mit herzlichen Worten. Den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wollte Hudal mit einem Te Deum (Dank-Gottesdienst) feiern, der aber von Papst Pius XI. abgelehnt wurde.
1945 wurde Hudal zum wichtigsten Fluchthelfer für Nationalsozialisten, die er als persönlich schuldlos und politisch Verfolgte bezeichnete. Diesen Menschen zu helfen, war für ihn ein karitativer Akt der Nächstenliebe, zumal SS-Männer erprobte Kämpfer gegen den antichristlichen Bolschewismus seien. Den als Kriegsverbrecher „verteufelten“ Nationalsozialisten, die von den Kommunisten und „christlichen Demokraten“ verfolgt wurden, zu helfen, war für ihn eine Forderung des „wahren Christentums“.
Für Hudal war auch Franz Stangl, der als Kommandant der Konzentrationslager Sobibor und Treblinka maßgeblich für die Vergasung und Ermordung hunderttausender Juden verantwortlich war, „ein unschuldiges Opfer“. Mit Freude begrüßte er Franz Stangl, der aus einem Linzer Gefängnis geflohen war. Hudal gab ihm Schutz, Verpflegung, finanzielle Unterstützung und verschaffte ihm durch das Rote Kreuz in Rom falsche Pässe, die Stangl und dessen Familie die Flucht nach Syrien und später nach Argentinien ermöglichten.
Hudal verhalf auch Walter Rauff zur Flucht nach Chile. Rauff war Erfinder der „Gas-Wagen“. Abgase wurden in Lastwägen mit jüdischen Insassen geleitet, eine halbe Million Juden erlitt so einen qualvollen Tod. Walter Rauff starb als gutsituierter Fabrikant, der bis zuletzt seiner Gesinnung treu blieb.
Hudal half Franz Roschmann, dem „Schlächter von Riga“, Josef Schwammberger, dem Kommandanten dreier Konzentrationslager in Polen und sadistischen Exzesstäter, sowie Erich Priebke, der für die Erschießung von 335 Zivilisten, darunter 75 Juden, in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom verantwortlich war.
Simon Wiesenthal hat auch Hudals Hilfe für Otto Wächter minutiös beschrieben. Otto Wächter war am 25. Juli 1934 federführend beim Dollfuss-Putsch gewesen. Später war er durch Odilo Globocnik an der „Aktion Reinhardt“ 1942/43 beteiligt. Bei einem Attentat war Himmlers Stellvertreter Reinhardt Heydrich getötet worden; ihm zu Ehren wurde die Ermordung von zweieinhalb Millionen Juden in Polen als „Aktion Reinhardt“ bezeichnet. Otto Wächter war in seiner Funktion als Gouverneur des Distrikts Galizien ein rücksichtsloser Vollstrecker der nationalsozialistischen Ideologie.
Der Stellvertreter
Der Vatikan war darüber besorgt, sodass Hudal seine Funktion als Rektor der St. Anima verlor, obwohl er guten Kontakt zu Pius XII. hatte. Hudal war verbittert. In seiner Verärgerung verschaffte er Rolf Hochhuth belastendes Material über Papst Pius XII., das dieser in seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ verwertete. Das Stück befasste sich mit dem Schweigen von Pius XII. über die Ermordung von sechs Millionen Juden. Als 1963 Papst Johannes XXIII., der Nachfolger von Pius XII., zu diesem Theaterstück befragt wurde, kam die Antwort: „Was soll man über die Wahrheit sagen?“
Hilfe für das Ustascha-Regime
Der kroatische Franziskaner-Priester Krunoslav Draganović war kirchlicher Partner von Alois Hudal bei der Organisation der Rattenlinie. Er war vorwiegend für die Fluchthilfe kroatischer Ustascha-Leute zuständig und hatte dafür die Unterstützung durch einen der Verantwortlichen im Kardinalstaatssekretariat des Vatikans, Giovanni Montini, dem späteren Papst Paul VI. Krunoslav Draganović hatte eine hohe Funktion im Ustascha-Staat als Bevollmächtigter für die Umsiedelung von Serben und Juden während des Zweiten Weltkriegs. Umsiedelung bedeutete unter anderem die Deportation in das KZ Jasenovac, das wegen seiner Grausamkeit das „Auschwitz des Balkans“ genannt wurde. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ermöglichte Draganović dem Führer des Ustascha Regimes Ante Pavelić und zahlreichen anderen Ustascha-Verbrechern die Flucht nach Argentinien. Dort nahm Präsident Juan Perón, ein Sympathisant von Hitler und Mussolini, die Geflüchteten mit offenen Armen auf. Ante Pavelić wurde Sicherheitsberater von Perón, der auch zahlreiche andere Ustascha-Leute in seine Dienste stellte. Ante Pavelić konnte in Argentinien eine „Exilregierung“ bilden, die jedoch keine Anerkennung fand. Er zog sich dann nach Madrid zurück, wo er 1955 mit den Segnungen von Pius XII. verstarb.
Klaus Barbie
Krunoslav Draganović arbeitete ab 1947 eng mit dem amerikanischen Militär- Geheimdienst CIC (Central Intelligence Corps – Spionageabwehr im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg) zusammen. Er verhalf auf Ersuchen des CIC Klaus Barbie, dem „Schlächter von Lyon“, zur Flucht nach Bolivien. Klaus Barbie war auch für den Bundesdeutschen Nachrichtendienst unter dessen Leiter Reinhard Gehlen tätig. Gehlen war hoher Wehrmachts-Offizier und Experte für Spionage in der Sowjetunion. Klaus Barbie konnte in Bolivien unter Militärdiktator Hugo Banzer seine Karriere als Spion und Geheimdienstfolterer fortsetzen.
Bricha
Bricha heißt auf Hebräisch „Flucht“. Etwa zehntausenden Überlebenden der Shoah gelang die Flucht über die Alpen nach Italien. Die britische Mandatsregierung für Palästina hatte unter arabischem Druck die offizielle Einreise von Juden untersagt. Die Organisatoren der Bricha versuchten, die illegale Einreise zu forcieren. Die Fluchtrouten von Juden und Nationalsozialisten überschnitten sich, da einheimische Schmuggler für beide Gruppen ähnliche alpine Fluchtwege und Herbergen benutzten. Oft übernachteten Juden und Naziverbrecher zur gleichen Zeit in Herbergen, ohne gegenseitig voneinander zu wissen.
Nach Ansicht Wiesenthals waren die Naziverbrecher die größten Profiteure des Kalten Krieges. Sie galten den amerikanischen Geheimdiensten und der Katholischen Kirche als erprobte und erfahrene Kämpfer gegen den Kommunismus. Die Angst vor dem Kommunismus hatte zur Folge, dass nationalsozialistische Täter Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus wurden. Es bestand kein weiteres Interesse, die Verbrechen an den Juden zu ahnden. Der Ermordung von Millionen Juden begegnete man mit Indifferenz und das Erstarken kommunistischer Parteien, speziell in Italien und Frankreich, war ein Warnsignal.
Kontinuitätslinien
Die Kontinuitätslinien zum Dritten Reich hielten in der österreichischen Bevölkerung, in Ministerien und Behörden über Jahrzehnte an. Man stand eher auf Seite der Täter als auf jener der Opfer. Simon Wiesenthal beklagte immer wieder, dass seine Tätigkeit bei der Auffindung und Bestrafung der Judenmörder stark behindert wurde. In aller Öffentlichkeit diskreditierte Bundeskanzler Bruno Kreisky Simon Wiesenthal, nachdem dieser aufgedeckt hatte, dass in der Regierung Kreisky vier ehemalige SS-Männer saßen. Internationales Aufsehen erregte es, als Wiesenthal die Zugehörigkeit des FPÖ-Obmanns und Koalitionspartners Kreiskys, Friedrich Peter, zur Sondereinheit C der SS aufdeckte. Diese Einheit ermordete während des Zweiten Weltkrieges 720.000 Juden – Männer, Frauen und Kinder.
Wiesenthal wurde jahrelang diffamiert und zur Persona non grata erklärt. Er hat seine Tätigkeit trotz all dieser Widrigkeiten und dem Widerstand, der ihm entgegengestellt wurde, nicht aufgegeben. Wiesenthals Prinzip „Recht, nicht Rache“ hat sich nach jahrzehntelangem mühseligem Kampf durchgesetzt. Seine Kenntnisse und Erkenntnisse sind von größter Bedeutung für die Zeitgeschichte und für das Verständnis darüber, wie zehntausenden Naziverbrechern die Flucht nach Südamerika und in den Nahen Osten gelang.