Vor 40 Jahren begann mit einem Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens auf dem Sinai und den Golanhöhen der Jom-Kippur-Krieg. Ein Rückblick.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem
Am Jom Kippur, dem heiligsten Feiertag des Judentums, steht Israel traditionell still. Es gibt keinerlei Straßenverkehr. Radio und Fernsehen schweigen. Das gesamte gesellschaftliche Leben ruht. Jedermann ist zu Hause oder in der Synagoge. Am frühen Nachmittag des 6. Oktober 1973 – dem Jom Kippur des Jahres 5734 nach jüdischer Zeitrechnung – griff eine Staatenkoalition unter Führung Ägyptens und Syriens den jüdischen Staat gleichzeitig von Nordosten und Südwesten her an. Die israelische Regierung zeigte sich völlig überrascht.
Als knapp drei Wochen später ein Waffenstillstand in Kraft trat, waren 2.656 israelische und Schätzungen zufolge bis zu 18.500 arabische Soldaten tot. Mehr als 40.000 Menschen waren verletzt. Damit ist der Jom- Kippur-Krieg der bislang blutigste arabisch-israelische Waffengang.
Im Rückblick war dieser vierte Nahostkrieg nicht nur ein prägender Schock für die israelische Gesellschaft, sondern öffnete auch die Tür für den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag und die formelle Anerkennung des jüdischen Staates seitens einiger seiner arabischen Nachbarn. Im Oktober jährt sich dieses Ereignis zum 40. Mal.
Zeitzeuge: Jossi Bar Kochba
Hauptumgangssprache in French Hill scheint Arabisch zu sein. Mein Gesprächspartner bittet mich, von der „milchigen“ Pizzeria, in der ich gerade noch einen Caffellatte genossen hatte, in die „neutrale“ Bäckerei zehn Meter weiter umzuziehen. Er hält sich streng an die jüdischen Speisegebote und möchte unmittelbar vor dem „fleischigen“ Mittagessen nichts „Milchiges“ zu sich nehmen. „Ismail!“, bestellt er lautstark auf Arabisch und zieht den Stuhl vom Tisch zurück: „Zwei schwarze Kaffee ohne Zucker, bitte – und bring uns Gebäck!“
Der Jerusalemer Stadtteil French Hill ist nach Ansicht der EU eine „illegale jüdische Siedlung“. Ismail kommt, wie seine Kollegen in den benachbarten Läden und der alte, traditionell gekleidete Araber, der einen Arm voll Ledergürtel feilbietet, aus dem palästinensischen Dorf Issawiye, nur wenige hundert Meter unterhalb des French Hill. Issawiye hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten unter israelischer Herrschaft kräftig ausgedehnt, so dass heute zwei Drittel des Ortes auf Gebiet liegen, das vor 1967 zu der Enklave um die Hebräische Universität auf dem Skopusberg, also zum Staat Israel gehörte – wie Google Earth jedem zeigt. In Sichtweite, gleich hinter Issawiye, beginnt das international heftig diskutierte Gebiet „E-1“, auf dem die Israelis bauen wollen, um Maale Adumim, die größte jüdische Siedlung im Westjordanland, mit Jerusalem zu verbinden. Aber diese komplizierten politischen Korrektheiten interessieren weder Ismail noch den Gürtelverkäufer – auch nicht meinen Gesprächspartner, Jossi Bar Kochba.
Bar Kochba ist am 1. Juli 1951 im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern aus dem Norden des Irak nach Israel eingewandert. Schnell änderte er seinen Namen, „weil die Aschkenasen – die europäischen Juden – meinen ursprünglichen Namen doch nicht aussprechen können.“ Im militärischen Nachrichtendienst brachte er es bis zum Hauptmann: „In den Anfangsjahren des Staates waren alle Geheimdienste Israels von irakischen Juden dominiert. In meiner Einheit sprachen alle den Slang aus Bagdad. Alle sprachen Arabisch – außer dem Vizekommandeur, der war Aschkenase – aber deswegen trotzdem kein Esel!“ Das zweideutige Lob für den Vizekommandeur ist symptomatisch dafür, was Bar Kochba gemeinhin von Aschkenasen hält. Dass die „mit ihren europäischen Köpfen“ nicht verstehen, wie ein Orientale tickt, hält er für einen der Hauptgründe des Nahostkonflikts.
„Eigentlich wollte ich nur nach Hause, duschen, die Zeitung lesen, bis es Zeit war, in die Synagoge zu gehen“, erinnert sich Jossi Bar Kochba an den Vorabend des Jom Kippur im Oktober 1973. Er arbeitete damals in der Militärverwaltung in Ramallah, wo er es letztlich bis zum Gouverneur bringen sollte. „Doch dann rief mich der Stellvertreter des Gouverneurs. Ich solle bleiben. Begründung: Es gibt Krieg!“ – „Ya’ani“, sinniert Bar Kochba in einem seltsamen Gemisch aus Hebräisch und Arabisch, „wenn ich kleine Schraube im großen Getriebe das um 10 Uhr wusste, dann wusste das mein Vorgesetzter schon um 9 Uhr – und der Generalstab um 7 Uhr… – offiziell brach der Krieg aber erst am darauf folgenden Tag um 14 Uhr aus …?!“
„Ende des dritten Tempels“
Tatsächlich hatte es mehr als genug Warnungen im Vorfeld des Krieges gegeben. Bar Kochbas Kollege im militärischen Nachrichtendienst, Leutnant Benjamin Siman-Tov, hatte in der Woche davor anhand von Luftaufnahmen ägyptische Manöver als Kriegsvorbereitungen enttarnt. „Sie haben ihn einfach rausgeworfen“, weiß Bar Kochba. Auch der Hinweis, dass die Gleichzeitigkeit ägyptischer und syrischer Manöver verdächtig sei, überzeugte nicht. Dann ließ Aschraf Marwan, Schwiegersohn des drei Jahre zuvor verstorbenen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, der für den Mossad arbeitete, Israel wissen, ein Angriff stehe unmittelbar bevor. Und schließlich war König Hussein von Jordanien in der letzten Septemberwoche heimlich nach Israel gekommen, um Premierministerin Golda Meir persönlich zu warnen.
Als dann am heiligsten Tag des Judentums Ägypten, Syrien, der Irak und Jordanien mit Unterstützung durch die Sowjetunion, Algerien, Kuba, Kuwait, den Libanon, Libyen, Nordkorea, Pakistan, Saudi-Arabien und Tunesien auf den Golanhöhen und am Suezkanal die Offensive begannen, stand Israel mit dem Rücken zu Wand. In den Wochen vor dem Krieg hatte Ägyptens Präsident Anwar el Sadat gar behauptet, eine Koalition von über hundert Staaten hinter sich zu haben. Erstmals in der Geschichte stellten sich Großbritannien und Frankreich im UN-Sicherheitsrat auf die Seite der Araber.
Auf den Golanhöhen legten Panzerkommandeure wie Avigdor Kahalani und Zvika Greengold, die mit 15 Panzern drei syrische Brigaden aufhielten, die Grundlage für Legenden. Erstmals fielen hunderte von Israelis in die Hände der Ägypter und Syrer. Schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich: Die Syrer ignorierten die Genfer Konventionen, folterten und töteten viele der Kriegsgefangenen. Im Dezember 1973 brüstete sich der syrische Verteidigungsminister Mustafa Tlass gar vor der Nationalversammlung seines Landes, einem Soldaten die Medaille der Republik dafür verliehen zu haben, dass er 28 israelische Gefangene mit einer Axt erschlagen habe.
Tatsächlich war die militärische Lage in den ersten Kriegstagen so kritisch, dass der israelische Verteidigungsminister Mosche Dajan in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober seiner Premierministerin mitteilte: „Dies ist das Ende des dritten Tempels!“ „Tempel“ war das Codewort für Atomwaffen. Golda Meir gab grünes Licht für die Installation taktischer Nuklearwaffen. Als die Amerikaner davon erfuhren, ordneten sie eine Luftbrücke an, die alle materiellen Verluste Israels ersetzen sollte. Außer Portugal und den Niederlanden verweigerte ganz Europa den Flugzeugen dieser Luftbrücke die Zwischenlandung. Nur knapp wurde eine Eskalation zwischen den Großmächten USA und UdSSR vermieden.
Jossi Bar Kochba erinnert sich gut an die deprimierte Stimmung der ersten Tage – und an eine eigenartige Situation: „Da kam am Dienstag ein Priester aus Bir Seit zu mir: ‚Warum bist du traurig?‘ – Ich fragte mich, was ich einem arabischen Priester in so einer Situation antworten solle und sagte: ‚Nein, nein, ich bin nicht traurig!‘ – Sagt er zu mir: ‚Morgen werdet ihr siegen! Das steht schon im Buch des Propheten Jesaja …‘“ Bar Kochba lacht – und der Zweifel von damals steht ihm noch heute ins Gesicht geschrieben –, gibt aber zu: „Immerhin hat dieser arabische Priester mich aufgebaut.“ Zwei Tage später, am Donnerstag, stand der arabische Priester wieder da. Auf dem Schlachtfeld hatte sich inzwischen das Blatt gewendet. Er lachte und meinte: „Ich hatte recht, nicht wahr? Ihr werdet siegen. Siehst du!“ Der gläubige Jude scheint bis heute ambivalent gegenüber derartigen Aussagen von Christen, aber: „Das hat mir einfach in der Seele gut getan.“
Krieg der Generäle
Schon während der ersten Tage des Jom-Kippur-Krieges zeichnete sich intern ein „Krieg der Generäle“ Israels ab. Meinungsverschiedenheiten werden in der israelischen Gesellschaft schonungslos ausgetragen. So auch der Zwist zwischen dem Kommandeur des Südabschnitts, Generalmajor Schmuel „Gorodisch“ Gonen und Generalmajor Ariel „Arik“ Scharon, dem Kommandeur der Panzerdivision 143, die im Sinai operierte. Scharon war Vorgänger Gonens als Befehlshaber des Südabschnitts gewesen. Offensichtlich hatte „Gorodisch“ keine Chance, den dickköpfigen „Arik“ in den Griff zu bekommen. Bar Kochba meint im Rückblick: „Gonen war ein Esel. Gerade mal vier Monate im Amt, hätte er bei Kriegsausbruch ein Mann sein und zugeben sollen, dass Scharon kompetenter war – und ihm das Kommando übergeben sollen.“
Nach dem Krieg untersuchte eine Kommission unter Vorsitz von Schimon Agranat, Präsident des israelischen Höchstgerichts, das Geschehen. Es entbrannte ein „Krieg der Zeitungen“ um das Versagen von Politikern und Militärs, und das Ringen um die Aufarbeitung und das Vermächtnis des Jom-Kippur-Krieges geht bis heute weiter. Neu aufgetauchte Tonbandaufzeichnungen wirbeln Staub auf, bringen aber kaum mehr als eine Auffrischung der Erinnerung an altbekannte Stimmen kommandierender Offiziere. Vor zehn Jahren machte der Vorwurf die Runde, eine revisionistische Geschichtsschreibung wolle das Image des vom General zum Politiker mutierten Ariel Scharon aufbessern. Klar bleibt nur: Der Überraschungsangriff hätte niemals gelingen dürfen. Die Vorzeichen waren unübersehbar und klar.
Auf die Frage, wie Israel 1973 trotzdem überrascht werden konnte, hat der ehemalige Militärgouverneur und fromme Jude Bar Kochba eine unkonventionelle Antwort: „Der Heilige, gelobt sei Er, hat uns alle geblendet, damit wir zur Vernunft kommen. Nach dem überragenden Sieg von 1967, als wir drei arabische Staaten besiegten und Gebiete eroberten, von denen niemand zu träumen wagte, waren wir euphorisch, wurden überheblich und arrogant. Wir haben die Araber verachtet und geringgeschätzt. Deshalb hat Gott uns mit Dummheit geschlagen. Araber denken anders, sind deshalb aber noch lange nicht dumm.“ Auf die Frage, ob die israelische Gesellschaft die Lektion des Jom-Kippur-Krieges gelernt habe, winkt Bar Kochba kritisch deprimiert ab. Aber immerhin hat der politische und strategische Gewinn, den vor allem Ägypten aus diesem Krieg gezogen hat, die Tür für vierzig Jahre Ruhe im Süden geöffnet – wenngleich diese Ruhe heute durch den „Arabischen Frühling“ von Neuem auf dem Spiel steht.