Die jüdische Welt steht geschlossen hinter der Ukraine und ihrem Recht auf Selbstverteidigung. Das ist kein Zufall.
VON ERIC FREY
Als die russische Armee am 24. Februar die Ukraine überfiel, gab es kaum eine Stimme in Europa oder den USA, die das Regime von Wladimir Putin nicht verurteilte. Über die beste Reaktion auf diesen Akt der Aggression gab es allerdings viele unterschiedliche Meinungen: Viele in der Politik und den Medien waren angesichts der erwarteten militärischen Überlegenheit Russlands überzeugt, dass die Ukraine rasch einen Kompromiss mit Russland finden müsse, der einen Verzicht auf einen Nato-Beitritt sowie gewisse Gebietsabtretungen beinhalten würde. Und der Westen müsse sich bei Waffenlieferungen zurückhalten, um eine Eskalation des Krieges zu vermeiden. Selbst US-Präsident Joe Biden sprach ständig von der Gefahr eines dritten Weltkriegs. Auch wenn nur eine Minderheit die Kapitulation der Ukraine forderte, erschallte der Ruf nach Zugeständnissen umso lauter.
In den folgenden Wochen änderte sich die veröffentlichte Meinung allerdings radikal. Die militärischen Erfolge der Ukraine und die brutalen Kriegsverbrechen der Russen nahmen dem Szenario einer Teilung des Landes sowie einer erzwungenen Neutralität die moralische und realistische Grundlage. Nicht so in Deutschland, wo der offene Brief, in dem sich 28 Prominente in der Zeitschrift Emma gegen die Lieferung schwerer Waffen aussprachen, eine weit verbreitete Meinung widerspiegelte – wenn auch keinen Konsens, wie der Gegenbrief einer anderen Prominentengruppe in der Zeit zeigte.
Recht auf Selbstverteidigung
Wo ich in dieser Debatte stehe, lässt sich an meinen Kommentaren im Standard leicht ablesen. Von Tag zu Tag wurde ich mehr davon überzeugt, dass nur weitere militärische Erfolge der Ukraine eine akzeptable Lösung für diesen Konflikt bringen könnten, und dass ein Sieg möglich und sogar wahrscheinlich ist, wenn der Westen die Ukraine ausreichend unterstützt.
Eines fiel mir in zahlreichen Diskussionen im Freundeskreis sowie bei der Beobachtung der weltweiten Debatte auf: Jüdische Stimmen stehen fast ausnahmslos auf der Seite der Ukraine-Falken. Ja, es gibt Noam Chomsky, der schon immer den US-amerikanischen Imperialismus für alles Übel verantwortlich gemacht hat. Der Ökonom Jeffrey Sachs und der Autor Peter Beinart warnen vor westlicher Hybris und der Unberechenbarkeit einer Konfrontation mit einer Atommacht. Aber intuitiv und intellektuell steht die jüdische Welt uneingeschränkt auf der Seite der Ukraine und deren Recht auf Selbstverteidigung. Unter dem in Emma veröffentlichten Brief fand sich keine einzige jüdische Unterschrift, unter dem Brief in der Zeit mindestens ein halbes Dutzend, darunter Maxim Biller, Michel Friedman, Eva Menasse oder Daniel Kehlmann.
Wer hier Parallelen zum Angriff der USA auf den Irak 2003 ortet, übersieht einen großen Unterschied. Auch dieser Krieg wurde von der israelischen Regierung und vielen jüdischen Stimmen in den USA und Europa unterstützt, vor allem aus einer ehrlichen Sorge, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen gegen Israel richten könnte. Zu dieser Gruppe zählten neben den sogenannten Neocons auch jüdische Linksliberale und sogar einige Linke. Aber eine bedeutende jüdische Minderheit war von Anfang an dagegen – und nach und nach wurde sie zur Mehrheit. Diesmal ist es anders: Der Ukraine-Krieg spaltet die jüdische intellektuelle Welt nicht. Es ist fast ein jüdischer Krieg.
Wille zum Widerstand
Für dieses Phänomen gibt es mehrere Erklärungen. Judentum ist keine pazifistische Religion. Auch wenn man sich mit Schalom begrüßt und täglich um den Frieden betet, ist die Geschichte der Israeliten in der Bibel die eines des bewaffneten Kampfes; die jüdische Ethik beschäftigt sich mit den Prinzipien des gerechten Krieges, nicht des gewaltlosen Widerstands.
1800 Jahre, zwischen dem Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer und den jüdischen Partisanengruppen, die im Zweiten Weltkrieg gegen Wehrmacht und SS kämpften, hatten Juden keine Gelegenheit zum bewaffneten Widerstand, wenn sie verfolgt wurden. Auch in der Shoah war es nur einer kleinen Minderheit möglich, sich gegen die Deportationen und die Ermordung zu wehren. Aber das war keine bewusste Entscheidung, sondern eine Folge der Machtlosigkeit. Und alle Überlebenden hatten auf irgendeine Weise Widerstand geleistet und sich gewünscht, dass es noch viel mehr hätte sein können. Der Aufruf von Mahatma Gandhi, die Juden sollten sich doch gewaltlos gegen das NS-Regime wehren, wird bis heute als peinlicher Irrtum des Säulenheiligen des Pazifismus gesehen. Und nach 1945 war es allen Jüdinnen und Juden in Europa bewusst, dass sie ihr Leben dem so schwer errungenen Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland verdankten.
Der Zionismus und die Gründung des Staates Israel durch jüdische Kämpfer hat den Willen zum bewaffneten Widerstand im jüdischen Denken weiter verstärkt. Selbst Kritiker der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik würden das Recht auf Selbstverteidigung nicht in Frage stellen. So wie jetzt die Ukraine hat auch Israel in zahlreichen Kriegen größere und besser ausgerüstete Feinde durch kluge Taktik und überlegene Technologie zumindest in Schach gehalten.
Dass die Ukraine mit Wolodymyr Selenskyj einen jüdischen Präsidenten hat, der durch seinen Mut und seine Eloquenz zur Symbolfigur des Widerstands geworden ist, hat die emotionale Verbundenheit von Juden zur Ukraine verstärkt und die noch vor ein paar Jahren weit verbreiteten Ressentiments gegen den ukrainischen Nationalismus verdrängt. Ja, Stefan Bandera und andere nationale Anführer waren Antisemiten und NS-Kollaborateure. Aber heute wird faschistisches Gedankengut viel mehr von Putins Tyrannei verbreitet als von der kleinen rechtsextremen Szene in der Ukraine.
Und wenn man sich die Putin-Versteher und Russland-Beschwichtiger im Westen anschaut, dann findet man sie überwiegend bei jenen rechten und rechtsextremen Kräften, die sonst zum Antisemitismus neigen.
Selbst die israelische Regierung, die aus realpolitischen Gründen lange Zeit keine Stellung im Konflikt beziehen wollte, weil sie mit Russland in Syrien kooperiert, ging nach der unfassbaren Behauptung von Außenminister Sergej Lawrow, wonach Juden die schlimmsten Antisemiten gewesen seien und auch Hitler jüdisches Blut gehabt habe, auf Distanz zu Moskau. Die spätere Entschuldigung Putins für diese Aussage hat den Schaden in den Beziehungen nur zum Teil begrenzt. Auch in Israel ist man sich bewusst, dass der großrussische Nationalismus, der von der orthodoxen Kirche gestützt wird, seine historischen Wurzeln auch vom Antisemitismus des Zarenreiches hat. Unter den hunderttausenden meist gut ausgebildeten Russen, die seit Kriegsausbruch ihre Heimat verlassen haben, finden sich auch zahlreiche Jüdinnen und Juden.
Denn eines haben wir alle in unserer grausamen Geschichte gelernt: Eine Welt, in der Diktatoren wie Putin ihre Ziele mit militärischer Gewalt oder Drohungen durchsetzen können, kann für Juden niemals ein sicherer Ort sein.