VON PETER MENASSE
Eines der „Mädln“ ist gestorben. Sehr alte und viele junge Menschen kamen zum Begräbnis. Alle haben sie Johanna „Hansi“ Tausig bewundert und geliebt. Wenn ich hier über sie berichte, würde ich mir wünschen, dass alle Politikerinnen und Politiker das lesen, die heute über Flüchtlinge entscheiden, über deren Leben oder Tod.
Hansi Tausig war gerade achtzehn Jahre alt, als sie 1938 vor dem Nazi-Terror nach England flüchtete. Ihr Sohn Wolfgang berichtete beim Begräbnis, wie es ihr und den anderen Zuginsassen erging, als sie in Richtung Atlantik unterwegs waren: „Während der gesamten Bahnfahrt durch Deutschland herrschte ängstliches Schweigen, niemand rührte sich, niemand sprach ein Wort. Und dann passierten sie die Grenze zu Belgien. Mit einem Mal entlud sich die Spannung in Lachen, Tanzen und Singen von Antinaziliedern … bis der Zug zurückrangiert wurde. Plötzlich wieder Schweigen und Todesangst.“
Sie schaffte es dann doch nach England und wurde von diesem Land aufgenommen. Bald engagierte sie sich bei „Young Austria“, einer kommunistischen Organisation, die jungen Menschen ein kleines Stück österreichischer Heimat bot. Die jungen Frauen, die „Mädln“, traten vor englischem Publikum in Trachten auf und tanzten zu Volksweisen. „Wir Österreicher sind Opfer der deutschen Aggression“, war der Inhalt, an den sie glaubten und den sie in England verankern wollten. Absurd, wenn wir an die Nachkriegsgeschichte denken, in der sich das offizielle Österreich diese These aneignete, um jede Schuld von sich zu weisen. Wie auch immer, die jungen jüdischen Mädln und Burschen, die man aus dem Land getrieben hatte, waren die besten Botschafter, die sich Österreich nur wünschen konnte. Und sie sehnten sich nach ihrer Heimat, nach einem unabhängigen, demokratischen Staat.
Hansi war in Wien unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsen. Der Vater war gestorben, als sie fünfzehn Jahre alt war. Nach der Schule fand sie einen Lehrplatz in einer Fabrik, die Kleiderbügel herstellte. Wolfgang erzählt: „Zur Lehrstelle am Gaudenzdorfer Gürtel ging Hansi jeden Tag von ihrer Wohnung im neunten Bezirk zwei Stunden hin und zurück zu Fuß. Das Fahrgeld konnte sie nicht aufbringen. Dieser lange Fußweg verhalf ihr später zu einem Kompliment eines Verehrers. Der bewunderte beim Tanz ihren sanften und leisen Schritt. Was er nicht wusste: Hansis Schuhe hatten wegen der langen Fußmärsche keine Sohlen mehr.“
Hansi und viele ihrer Freundinnen und Freunde, die wie sie in England Zuflucht gefunden hatten, kehrten bald nach Kriegsende nach Österreich zurück. Hansi bekam zum Abschied von der englischen kommunistischen Partei ein Geschenk, ein großes Gurkenglas voll mit Penicillin. Dazu lasse ich hier ihren Enkelsohn Mathias erzählen: „Penicillin war erst wenige Jahre zuvor in den USA auf den Markt gekommen und im Nachkriegs-Österreich kaum zu erhalten. Wäre sie damit in den Resselpark im 4. Bezirk gegangen, wo sich ein Schwarzmarkt befand, hätte sie ein kleines Vermögen mit diesem Glas verdienen können. Eine Frau, die ihr bisheriges Leben immer an der Grenze zur Armut verbracht hatte, die aus ihrer Heimat vertrieben worden war und nach ihrer Rückkehr ohne Familie, Wohnung, Arbeit oder Geld dastand. Wer hätte es ihr verdenken können? Aber sie handelte nicht so. Sie gab das Glas bei der zuständigen Magistratsabteilung der Stadt Wien ab. Es sollten schließlich auch die armen Leute in Wien, die sich die Schwarzmarktpreise nicht leisten konnten, eine Chance auf Heilung von der Tuberkulose haben.“
Als die Republik Österreich vor einigen Jahren den Verfolgten des Nazi-Regimes einen kleinen Betrag als „Wiedergutmachung“ zusprach, nahm Hansi das Geld und übergab es an das „Integrationshaus“. Sie wurde daraufhin als Ehrengast zum „Flüchtlingsball“ ins Wiener Rathaus eingeladen, wollte aber nicht hingehen. Nichts war ihr fremder, als sich in den Mittelpunkt zu stellen. Sie spendete, weil sie erfahren hatte, was es heißt, Flüchtling zu sein. Schließlich ließ sie sich davon überzeugen, dass viele junge, engagierte Menschen sie persönlich kennenlernen wollten und ging hin. Diesmal mit Schuhen samt Sohle.
Mathias sagte beim Begräbnis über die von allen geliebte Hansi: „Meine kleine Oma wird mir immer ein großes, unerreichbares Vorbild sein. Sie hat ihr ganzes Leben lang bewiesen, dass man kein Geld, keine Macht, keine einflussreichen Freunde braucht, um etwas in dieser Welt zu bewegen. Sie war voll von Überzeugung, Einsatz und aufopferndem Engagement, sie hatte ein unvergleichliches, soziales Wesen.“
Was lässt sich daraus schließen? Menschen lieben ihre Heimat. Sie flüchten vor dem drohenden Tod. Man soll nicht die Boote zerstören, die ihre einzige, wenn auch nur so geringe Chance auf Leben sind. Sie sind das Pendant zu den Zügen, die bedrohte Österreicher nach England brachten.
Das „Nie wieder“ an den Gedenkstätten für die ermordeten Opfer des Nationalsozialismus erhält nur Sinn, wenn es den heute verfolgten Menschen gilt. Das sollte den österreichischen Politikern das Vermächtnis der Johanna „Hansi“ Tausig sein, dieser großen Frau, die uns durch ihr Handeln so viel gelehrt hat.