Eine Wiederentdeckung: Die Feuilletons des Zionismus-Begründers Theodor Herzl zeigen ihn als scharfsinnigen Gesellschaftskritiker.
Von Katja Sindemann
Theodor Herzl (1860–1904) ist jedem bekannt als Autor des Buchs „Der Judenstaat“, Vorreiter des Zionismus und gedanklicher Gründervater des Staates Israel. Weniger bekannt ist, dass er viele Jahre für die „Neue Freie Presse“ journalistisch tätig war.
So berichtete er von 1891 bis 1894 als Korrespondent aus Paris, wobei er unter anderem über die Dreyfuß- Affäre schrieb. Als er wieder nach Wien zurückkehrte, wo er Jura studiert hatte, arbeitete er als Feuilletonist weiter für die Zeitung, und zwar bis zu seinem Tod 1904. Er beschrieb in seinen Texten Alltagserlebnisse, Vorkommnisse aus dem Wiener Stadtund Gesellschaftsleben, die er humoristisch ausbaute und ummantelte.
Aus der Fülle seiner Feuilletons hat der metroverlag eine kleine, aber feine Auswahl getroffen. So macht sich Herzl sorgenvolle Gedanken über Wohl und Wehe von Wunderkindern. Denn er ahnt voraus, dass die heute Gefeierten leiden werden, wenn in etlichen Jahren Erfolg und Beifall ausbleiben. In einer Schnurre über Wilhelm Busch, den „Lachonkel aller deutschen Kinderstuben“, erkennt Herzl, dass dessen Komik auf der Kenntnis menschlicher Schadenfreude beruht: „Das Pech der anderen ist eine unerschöpfliche Quelle der Erlustigung.“ Eine historische Fundgrube ist sein Stückchen über den Wiener Prater, wo exotische Tiere und Menschen zu Schauzwecken ausgestellt werden. Herzl schildert einfühlsam die rührende Liebe einer Wärterin zu der Schimpansendame Maya. Und erzählt aus dem Leben und Treiben im Aschantidorf, das von Westafrika in den Prater verpflanzt wurde. Ebenso scharfsinnig analysiert er die Pferderennen in der Freudenau: ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, zu dem die Leute nur aus Spielsucht kommen. Seine Beobachtung: Misstrauen ist die Grundlage aller Gesellschaft.
Einen seitenlangen ironischen Essay gewinnt Herzl aus der Tatsache, dass man neuerdings im Burgtheater Sitze durch Postanweisung vormerken kann. Eine Neuerung, die zweifellos Vor- und Nachteile hat. Der Vorteil: Man hat seine Karten gewiss. Der Nachteil: Man hat seine Karten gewiss, jedoch zugleich eine große Ungewissheit: Vielleicht sitzt man im leeren Haus, vielleicht sind die Schauspieler krank, vielleicht ist der Spielplan geändert.
Nicht vergessen wird natürlich das Dorotheum, wo gerade der Nachlass der Operetten-Diva Marie Geistinger versteigert wird. Auch hier zeigt sich Herzls Menschenkenntnis: „Einige haben noch das verspätete Lächeln der Triumphe im Antlitz, denn es war ein Kampf. In anderen Gesichtern entdeckt man schon Anfänge der Reue und Niedergeschlagenheit.“ Um in der Lebensweisheit zu gipfeln: „… dass immer derjenige glücklich zu preisen ist, der das Ersehnte nicht erlangen konnte. Aber diese Einsicht steht am Ende der Dinge, nicht am Anfang, und dazwischen liegt das ganze Leben …“ Erbstreitigkeiten, Wohnungswechsel und die letzte aufflammende Liebe eines alternden Mannes – nichts Menschliches war Herzl fremd. Ein bisschen Ironie, ein bisschen Zynismus, ein bisschen Tragik und sehr viel liebevolle Beobachtungsgabe, das zeichnet die Artikel von Theodor Herzl aus.