Bald wird seine Geschichte als Hollywood-Film die ganze Welt berühren: NU hat Jack Kagan getroffen, der in einer versteckten Siedlung in den Wäldern des heutigen Weißrusslands gemeinsam mit 1.200 Juden den Vernichtungskrieg der Nazis überlebte.
Von Axel Reiserer, London
Die Geschichte ist zu gut, um von Hollywood nicht aufgegriffen zu werden. Nach dem Überfall Hitler- Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 errichteten die Brüder Bielski in der Nähe der Kleinstadt Novogródek tief in den Wäldern eine versteckte Siedlung, in der knapp 1.200 Juden den Vernichtungskrieg der Nazis überleben konnten. Die Geschichte der jüdischen Partisanenkämpfer wird derzeit unter dem Titel „Defiance“ mit Daniel Craig in der Hauptrolle verfilmt. Jack Kagan, 1929 in Novogródek geboren, war damals dabei. Hier erzählt er seine Geschichte.
~ I ~
„Meine erste Erinnerung an Novogródek (1) ist, dass es eine zur Gänze jüdische Stadt war. Alle Geschäfte und Betriebe waren in jüdischer Hand. Es war ein seltsamer Ort, denn obwohl Novogródek nur eine kleine Stadt war, hatte es für die Polen große Bedeutung: In unmittelbarer Nähe wurde ihr Nationaldichter Adam Mickiewicz geboren und hier war er getauft worden. Daher machten sie Novogródek zur Gebietshauptstadt.
Aber Novogródek war arm. Das benachbarte Baranowicz war wohlhabend, weil es an den Bahnlinien nach Moskau, Warschau und Lemberg lag. Novogródek hingegen hatte ein Hinterland von etwa 140.000 Bauern, das waren vorwiegend Weißrussen, die in die Stadt zu Märkten und Messen kamen. Aber damals herrschte große Armut allein deshalb, weil die Bauern sehr arm waren. Und wenn der Bauer kein Geld hat, kann der Kaufmann nichts verkaufen. So waren alle arm. Die neu angesiedelten Polen (2) lebten in eigenen Siedlungen am Stadtrand, sie kamen nur ins Zentrum, wenn sie Ärger anzetteln wollten.
Ich wurde 1929 geboren. Mein Vater war Sattelmacher, wir waren eine Mittelklassefamilie, es fehlte uns an nichts. Wir lebten gemeinsam mit meinem Onkel in einem Haus. Mein Vater und sein Bruder, mein Onkel, hatten die Schwestern Gurevitz geheiratet. Wir waren eine sehr eng verbundene Familie. Ich hatte eine Schwester, eine Cousine und einen Cousin. Die Familien beider Eltern stammten aus der Gegend, sie fühlten sich hier zu Hause. Sie haben niemals an Auswanderung gedacht. Aber in der Zeit, als ich aufwuchs, war alles sehr zionistisch ausgerichtet, und es hieß, wer ein Jude ist, soll Hebräisch lernen. So besuchte ich eine Tarbut-Schule (3) und wurde auch vom Zionismus beeinflusst. Nur die ganz Religiösen waren gegen den Zionismus, aber die Stadt war nicht sonderlich religiös.
Alles änderte sich, als am 12. Mai 1935 Józef Pisudski (4) starb. Der Wind des Antisemitismus begann zu wehen. Die Mehrheit der Bevölkerung in unserer Gegend waren Weißrussen, aber die Polen betrachteten sie als ungeeignet für den Dienst in der Staatsverwaltung. So brachten die Polen viele Menschen aus Westpolen in unsere Gegend, und mit ihnen kam der Antisemitismus.
Damals wurde ein Numerus clausus für den Besuch höherer Schulen erlassen. Mit Parolen wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Unter den jungen Leuten versuchten jetzt viele, nach Palästina zu kommen. Aber wer es bis 1936/37 nicht geschafft hatte, für den war es zu spät. Das war das Ende. So lebten wir. Wir wussten, dass ein Krieg kommen würde, aber wir konnten nirgendwo hingehen. Alle Türen waren längst verschlossen.
~ II ~
So war die Lage bis zum Hitler- Stalin-Pakt (5). Als wir davon erfuhren, wussten wir, dass unsere Lage ausweglos war. Wir befürchteten, dass die Deutschen kommen würden. Und wir hatten ja mitbekommen, was in Deutschland geschah. Die Deutschen marschierten am 1. September 1939 in Polen ein, am 3. September sahen wir die ersten deutschen Flugzeuge. Wir hörten von den Kämpfen in Warschau, die ersten Flüchtlinge trafen ein und berichteten von ihren Erfahrungen mit den Deutschen. Am 17. September, um 16 Uhr, war auf einmal die Rote Armee da.
Etwa 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung begrüßten die Russen mit Blumen. Sie kannten die Alternative. Die Juden wussten, was ihnen mit den Deutschen bevorstand. Die Polen haben uns das nie verziehen, bis heute nicht. Aber wir hatten keine Wahl, denn die Alternative waren die Deutschen.
~ III ~
Die Sowjets zogen ein. Die Soldaten kauften alles, was sie bekommen konnten. Wenn sie zahlten, dann oft mit wertloser Währung. Sie nahmen alles, zwei linke Schuhe, zwei rechte Schuhe, ganz egal. Es gab keinen Nachschub, keine Versorgung. Wenn etwas weg war, war es weg. So mussten die meisten Geschäfte schließen, auch jenes meines Vaters. Die Synagoge wurde nicht geschlossen. Aber die Menschen hörten auf hinzugehen. Das ganze Leben änderte sich, es kam zu einer umfassenden Sowjetisierung. Im Rückblick muss ich sagen, dass sie versucht haben, die ganze jüdische Kultur zu vernichten. Alles, was uns wichtig war, wurde verbannt und verboten. Viele Juden wurden deportiert. Der letzte Transport ging am 20. Juni 1941 ab. Damals wussten wir nicht, dass das für viele die Rettung war.
So ging das Leben weiter. Man konnte seine Mutlosigkeit, Frustration und Angst mit niemandem teilen. Sprach man offen mit jemandem, konnte man umgehend im nächsten Transport nach Sibirien landen. Und auf der anderen Seite der Grenze standen die Deutschen. Wir wussten genau, was los war. Flüchtlinge kamen, die Sowjets nahmen sie sofort unter Kontrolle. Eines Tages wurden alle verhaftet und deportiert.
An einem Freitag im Juni kam ein sowjetischer General, dem man ein Zimmer in unserem Haus zugewiesen hatte. Er brachte Krim-Sekt, wir saßen und tranken. Am nächsten Tag kam er kurz vorbei, um seine Kleidung zu wechseln, denn Samstagabend tranken und tanzten die Soldaten am Hauptplatz. Wenige Stunden später begann der deutsche Überfall. Wir haben ihn nie wieder gesehen.
~ IV ~
Als wir am Sonntag, dem 22. Juni, aufstanden, wusste die Stadt bereits von dem deutschen Angriff. Die Russen waren völlig unvorbereitet, viele Soldaten waren auf Urlaub. Erst am nächsten Tag erfolgte die Mobilmachung. Stundenlang verbrannten die sowjetischen Funktionäre Papiere. Dann liefen sie Hals über Kopf davon. Alles war in völliger Auflösung.
Am Mittwoch sahen wir die ersten deutschen Flugzeuge. Sie zielten auf die Lenin-Statue auf dem Hauptplatz. Viele versuchten zu flüchten, mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit Zügen. Manche gelangten bis an die russische Grenze, die 60 Kilometer entfernt war, wurden aber sofort zurückgeschickt. Andere flüchteten in die Wälder.
Der Samstag war ein wunderschöner Sommertag, sonnig und windig. Um 15 Uhr nachmittag begann der Angriff der Deutschen auf Novogródek. Die Bewohner liefen panisch durcheinander. Bevor die Wehrmacht einzog, waren Zivilisten mit Hakenkreuz-Armbinden gekommen, Volksdeutsche aus Schlesien. Sie sollten in der Verwaltung arbeiten.
Am 4. Juli übernahm das Militär das Kommando, sie setzten einen polnischen Bürgermeister ein und polnische Beamte. Die SS kam und verlangte die Einrichtung eines Judenrats. Wenige Tage später, am 28. Juli, wurden 52 Juden festgenommen und auf dem Marktplatz zusammengetrieben.
Ich war in unmittelbarer Nähe, hörte die Unruhe, dann wurde Musik gespielt, Strauß-Walzer, und dann fielen Schüsse. Sie erschossen die Juden am helllichten Tag, während die Musik spielte. Nachher befahlen sie jüdischen Frauen, das Blut von den Straßen zu waschen. Einer war noch am Leben, er schrie, da erschossen die Deutschen auch ihn. Das war die SS. Alle Juden mussten sich zur Arbeit registrieren lassen, jeder musste einen gelben Flicken auf der Kleidung tragen, vorne und hinten. Es gab kaum Nahrungsmittel, Juden durften nicht mehr auf Märkte gehen und keinen Kontakt mit Ariern haben. Immer mehr Berufe wurden Juden verboten. So ging es weiter bis Dezember.
~ V ~
Die Einrichtung des Ghettos von Novogródek begann am 5. Dezember 1941. Auf einmal waren überall Plakate mit dem Befehl, dass für alle Juden eine Ausgangssperre ab 18 Uhr gilt und sich alle am nächsten Tag beim Gerichtsgebäude einzufinden haben. Jeder durfte zehn Kilogramm Gepäck mitnehmen, aber wir hatten nicht einmal mehr das. Wir schliefen nicht. Die ganze Nacht hörten wir Schüsse. Nach dem Krieg fand man heraus, dass in dieser Nacht mehr als 300 Juden getötet wurden, die meisten erschossen.
Am nächsten Tag mussten sich alle Juden beim Gerichtsgebäude versammeln. Etwa 6.500 Menschen wurden bei minus 20 Grad im Hof zusammengepfercht. Am Nachmittag wurden wir in das Gebäude geführt. Meine Familie schlief die ganze Nacht nicht. ,Nichts Gutes wird daraus kommen‘, sagte mein Vater. Aber wir hatten keinen Ort, wo wir hingehen konnten. Am nächsten Tag kam die Wehrmacht und nahm etwa hundert Männer mit sich, die einen Zaun um 28 Häuser im Vorort Peresika bauen mussten. So entstand das Ghetto. Am Montag kamen die SS und lokale Gendarmen. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen. Der SS-Kommandant trug weiße Handschuhe.
Die Selektion begann. Jeder musste zwei Fragen beantworten: Beruf und Kinder. Mein Onkel war vor uns an der Reihe, er sagte: ,Beruf: Sattelmacher: Kinder: zwei.‘ Er wurde nach links geschickt, wo man ihn sofort verprügelte. In Gruppen von 50 wurden die Juden von dort auf LKWs geführt und abtransportiert. Mein Vater kam an die Reihe, er sagte: „Beruf: Sattelmacher: Kinder: zwei.“ Er wurde nach rechts geschickt. Es gab keine Logik und Vernunft in der Selektion, nur Willkür.
5.100 Juden wurden auf diese Weise selektiert und nach Skridlevo, einem kleinen Ort in der Nähe gebracht. In Gruppen zu 50 wurden sie an den Waldrand geführt, sie mussten ihren Besitz abgeben, sich ausziehen und auf den Boden legen. Dann wurden sie zu Gruben geführt, wo sie erschossen wurden. Nach dem Krieg las ich, dass Dutzende dem Massenmord zuschauten. Der verantwortliche Kommandant wurde nach dem Krieg in Deutschland vor Gericht gestellt, er sagte, er habe nur Befehle ausgeführt, er wurde freigesprochen und der Staat musste ihm eine Entschädigung zahlen. Er starb friedlich in seinem Bett in Garmisch-Partenkirchen, wo er ein Gasthaus besaß.
Die übrigen 1.500 Juden von Novogródek wurden ins Ghetto gebracht. Es war völlig überfüllt, jeder Zentimeter musste genützt werden. Jeder hatte eine Pritsche von 60 Zentimetern, in einem Raum von vielleicht 15 Quadratmetern waren 20 und mehr Menschen untergebracht. Wir hatten nicht einmal Platz genug, um gleichzeitig aufzustehen. Später sollte sich das als mein Glück herausstellen.
Mein Vater und meine Mutter mussten in Werkstätten für die Deutschen arbeiten. Ich war mit 250 russischen Kriegsgefangenen in einer anderen Werkstätte, die vier Kilometer entfernt war. Ich war nicht einmal noch 13 Jahre alt. Die Deutschen setzten die Vertreibung der Juden ohne Pause fort. Ständig wurden noch Menschen in das Ghetto gebracht. Im Mai 1942 waren wir wieder rund 6.500. Wir gingen durch unsere Tage wie zum Tode Verurteilte, die das Datum ihrer Hinrichtung nicht kennen. Am 7. August 1942 wurden 5.500 Juden aus dem Ghetto abgeführt und in Litovka, etwa 1,5 Kilometer von Novogródek entfernt, erschossen.
~ VI ~
Die Brüder Tuvia, Zus und Asael Bielski waren in ihrer Jugend das, was man Raufbolde nennt. Sie stammten aus dem Dorf Stankiewicz, zwölf Kilometer von Novogródek entfernt, wo sie die einzigen Juden waren. Sie hatten gelernt, sich zu behaupten. Als die Deutschen einmarschierten, flüchteten die drei in die Wälder. Ihre Eltern und mehrere Geschwister – es waren zwölf Kinder – wurden im Dezember 1941 von den Deutschen ermordet. In den Wäldern trafen sie auf andere Partisanen, russische, weißrussische, polnische. Es gab viele Gruppen in den Wäldern, viele aber wollten die Juden nicht. Daher mussten die Juden eigene Einheiten aufstellen. Um zu überleben, überfielen, raubten und töteten sie.
Der organisierte Kampf der Bielskis beginnt im Sommer 1942, als sich ihnen immer mehr Juden anschlossen. Tuvia bestand darauf, jeden aufzunehmen. ,Ich rette lieber eine alte Jüdin als zehn Nazi-Soldaten zu töten‘, war sein Gebot.
Die Landbevölkerung war gegen die Juden, weil die Juden sie ausraubten. Selbst wenn ich heute mit alten Menschen in der Gegend spreche, sagen sie: ,Die Bielskis? Das waren Räuber, sonst nichts.‘ Aber welche Alternative gab es? Verhungern? Wenn man weiß wohin, dann kann man laufen, dann gibt es einen Fluchtpunkt. Ich wollte auch flüchten, aber es war Winter mit minus 30 Grad. Man braucht etwas zu essen. Es war 1942, die Deutschen schienen den Krieg zu gewinnen. Nicht auf ein Stück Brot konnte ich hoffen, niemand wollte einem Juden etwas geben. Wenn Menschen fragen, warum seid ihr nicht davongelaufen, warum habt ihr keinen Aufstand gemacht, dann ist das Dummheit. Es gab keinen Ort, wo man hinlaufen hätte können. Erst mit den Bielskis hat sich alles geändert.
~ VII ~
Ich wollte im November 1942 gemeinsam mit meinem Cousin flüchten, aber ich war noch nicht bereit. Ich hatte keine Schuhe, es war unmöglich, denn die einzige Chance war, einen Bauern zu kennen oder einen Partisanen, der einen in Sicherheit bringen konnte. Im Dezember ergab sich dann eine Gelegenheit, als ein Freund, der bei den Partisanen war, im Ghetto auftauchte, um seine Mutter zu retten.
Meine Eltern wussten von meinen Plänen. Meine Mutter sagte: ‚Hier wirst du sterben, versuche es.‘ Meine Eltern hatten keine Fluchtpläne. Sie dachten, es gibt keinen Ort, für uns Juden zu leben. Viele im Ghetto warnten: Laufe nicht in deinen sicheren Tod. Als mein Freund kam, wusste ich: Das ist meine Chance. Wenn ich jetzt nicht flüchte, werde ich nie entkommen. Ich bereitete mich vor, jetzt hatte ich Pelzstiefel. Doch alles ging schief. Ich stürzte in einen Fluss, meine Füße froren. Ich musste ins Ghetto zurückkehren. Und nun begannen erst meine Probleme, ernste Probleme.
Wundbrand setzte ein. Unser Zahnarzt amputierte mir schließlich mit Zangen meine Zehen. Ohne Betäubung. Aber das hat mir das Leben gerettet. Denn wäre ich gesund gewesen, wäre ich wohl am 7. Mai 1943 bei der letzten Exekution im Ghetto mit meiner Mutter und Schwester gewesen und ebenfalls ermordet worden. So wurde ich zurückgelassen auf meiner Pritsche, ich konnte nicht zum Appell antreten, und das rettete mir das Leben. Mein Vater wurde damals deportiert. Er starb ein Jahr später. In Novogródek waren noch etwa 250 Juden.
~ VIII ~
Niemand weiß, wer die Idee hatte, einen Tunnel zu graben. Aber ich hatte Glück, ich lag wegen meiner Verletzung auf meiner Pritsche und konnte alles hören, als die Pläne gemacht wurden. Wir brauchten Baumaterial und Werkzeug. Alles musste aus den deutschen Werkstätten gestohlen werden. Darauf stand die Todesstrafe. Wir brauchten unheimlich viel Holz, das mussten wir von dem größten polnischen Antisemiten der Stadt stehlen.
Alles war sehr schwierig. Wir brauchten Strom. Wir fanden die Hauptleitung, unser Elektriker baute eine Schaltung ein, im Juni 1943 hatten wir dann ein Notlicht, mit dem wir den Tunnel ausleuchten konnten. Ausßerdem schalteten wir immer wieder die deutschen Suchscheinwerfer aus. Das war das Allerwichtigste. Die Deutschen konnten die Ursache nie finden. Sie hatten keine Ahnung, was vorging. Wir gruben in der Nacht. Sie ließen uns in so verheerenden Bedingungen leben, dass sie uns nicht nahekamen. Alles, was wir für sie herstellen mussten, wurde entlaust. Wir hatten kein Wasser. Ich habe mich von März 1943 bis zu meiner Flucht im September nicht gewaschen. Tag und Nacht trug ich dieselbe Kleidung. Die Deutschen hielten sich von uns fern, so schrecklich war unser Zustand. Der Tunnel war 250 Meter lang und 65 Zentimeter hoch. Am 26. September 1943 wagten wir die Flucht.
Ungefähr 250 Menschen entkamen. Um 4 Uhr früh starteten die Deutschen die Suche. Wir schätzen, dass 65 bis 70 Menschen nach der Flucht getötet wurden, manche liefen den Deutschen direkt in die Arme, andere wurden gefunden. Glücklicherweise gab es damals bereits eine organisierte Partisanenbewegung, russische Partisanen konnten nicht mehr einfach Leute töten, die in ihre Hände fielen, sondern alle jüdischen Flüchtlinge, die gefunden wurden, wurden an Bielski übergeben.
~ IX ~
Als ich in Bielskis Siedlung kam, konnte ich nicht mehr gehen. Ich hatte meine letzte Energie für die Flucht aufgebraucht. Mein Cousin nahm sich meiner an. Die Bielskis hatten im Sommer 1943 begonnen, tief in den Wäldern von Naliboki ein Lager zu errichten, als ihre Gruppe bereits mehr als 700 Menschen zählte. Es war eine richtige Siedlung mit einer Hauptstraße, Wohnhäusern und Werkstätten. Im Winter 1943/1944 lebten hier 1.230 Juden.
Die Deutschen hatten ein Flugfeld in der Nähe, sie flogen regelmäßig über die Wälder und hätten uns entdecken können. Alles war getarnt. Wir brauchten Feuer, etwa um zu heizen oder Brot zu backen. So wurde ein Röhrensystem errichtet, durch das der Rauch weit entfernt abziehen konnte.
Als ich in das Lager kam, herrschte großer Zeitdruck, denn der Winter nahte und die Erde drohte zu frieren. Unentwegt wurden Gruben ausgehoben, andere Einheiten kleideten sie mit Holz aus, so entstanden Wohnhütten. Jeder hatte eine Aufgabe. Von den Werkstätten waren die Tischlerei und die Waffenschmiede am wichtigsten. Es gab aber auch einen Schneider, eine Seifenherstellung und eine Gerberei. Ebenso hatten wir einen Bäcker, zwei Großküchen und einen Fleischer. Was wir brauchten, wurde entweder bei anderen Partisanen eingetauscht oder durch Streifzüge in niedergebrannten Orten aufgetrieben. Alles wurde bis zum Letzten verwendet und genutzt, dennoch herrschte Mangel an allem.
Es gab einen Arzt, einen Zahnarzt und eine Krankenstation. Später kam eine Art Vorschule dazu, um Kinder, die noch nicht arbeiten konnten, zu beschäftigen. Die Siedlung hatte ine strenge Ordnung. In jeder Wohnhütte waren 40 Menschen untergebracht. Die Partisanenkämpfer standen an erster Stelle. Bis zur letzten Sekunde wurde eiserne Disziplin verlangt. Selbst nach der Befreiung im Juni 1944 wurde jemand erschossen, weil er sich einem Befehl widersetzt hatte. Davor hatten wir nur einen einzigen Todesfall: Ein Mann war an Typhus gestorben. Es war ein Wunder, dass eine Ausbreitung der Krankheit verhindert werden konnte. In der Krankenstation gab es kaum mehr als abgekochtes Wasser.
Als die Bielskis den Befehl zum Aufbruch gaben, wurde das Lager vollständig zerstört. Es sollte nicht verstreuten Einheiten des Feindes als Zufluchtsort dienen. Beim Zusam-mentreffen mit der Roten Armee ein paar Tage später meldete Tuvia Bielski: ,Unsere Gruppe umfasst 1.140 Juden.‘
~ X ~
Ich bin 1991 erstmals zurückgekehrt. Eigentlich wollte ich die Gegend nie wieder sehen, einfach nur vergessen, was geschehen war. Aber dann wollte ich die Gräber sehen, wo ich meine Familie verloren hatte. So kam ich zurück und fühlte mich schrecklich. Nach einer Stunde machte ich mich davon. Und ich dachte, ich werde nie wieder zurückkehren. Doch ich kam wieder nach Novogródek, und ich sah, dass es nicht einen einzigen Hinweis auf die Juden gab. Wir hatten 500 Jahre in der Gegend gelebt, und das war alles ausgelöscht. Kein Mahnmal, keine Erinnerung, kein Hinweis. Nichts, nirgends. Da beschlossen wir, das erste jüdische Widerstandsmuseum einzurichten, und entdeckten den Tunneleingang.
Wir wissen alles über Auschwitz, die Konzentrationslager, die Vernichtung der Juden. Aber sehr wenig ist bekannt über den jüdischen Widerstand, insbesondere in Weißrussland, niemand hat darüber gesprochen. Wir wissen nicht einmal, was Widerstand ist. Meiner Meinung nach war es Widerstand, am Leben zu bleiben. Juden nur als hilflose Opfer zu sehen, das ist eine Fortsetzung des Holocaust.