Der Autor und Literaturwissenschaftler Stefan Kutzenberger über sein Debüt „Friedinger“, sein Bekenntnis zum Judentum, seine Erfahrungen als Stadtschreiber von Wels und seinen neuen Roman, in dem Bob Dylan und Donald Trump eine verschwörerische Rolle spielen.
NU: Kann man als Literaturwissenschaftler beim Schreiben eigener Werke die kritische Analyse der Texte zur Seite drängen oder überprüft man das eigene Werk mit dem eigenen Qualitätsanspruch ?
Stefan Kutzenberger: Ich habe mir darüber noch nicht einmal Gedanken gemacht, ich finde diese zwei Disziplinen auch nicht so unterschiedlich. Bei beiden braucht man zuerst einmal eine Idee –ohne Idee kommt man auch in der Wissenschaft nicht weit. Und das Schreiben ist dann so, wie es Oscar Wilde gesagt hat: „More transpiration than inspiration.“ Also mehr Fleiß als Eingebung. Und gerade der Roman Friedinger, in dem viel intertextuell gespielt wird, ist natürlich auch ein Spiel mit der Literaturwissenschaft.
Viele Schriftsteller verwahren sich gegen autobiografische Rückschlüsse, Sie haben aber sogar einer der Figuren Ihren Namen gegeben.
Unter dem Buchtitel steht ja auch „Roman“ – und das ist ein wesentlicher Punkt. Auch wenn der Autor einen seiner Protagonisten nach sich selbst benennt, ist und bleibt er fiktiv. Damit wollte ich zeigen, dass eine literarische Figur niemals einem realen Vorbild entsprechen kann. Auch dann nicht, wenn man eine Autobiografie schreibt. Sobald man versucht, ein Leben in Worte zu fassen, verändert sich alles. Das gilt auch für das Schreiben von Tagebüchern. Man muss eine Auswahl der zu beschreibenden Tätigkeiten und Dinge treffen. Und mit dieser selektiven Wiedergabe von Erlebtem geht die Wahrhaftigkeit verloren.
Sie haben sich in Friedinger auch mit Ihrer jüdischen Großmutter auseinandergesetzt. Haben Sie damit herausfinden wollen, was an Ihnen selbst jüdisch, was chinesisch, indonesisch oder österreichisch ist?
Es stimmt schon, dass mit zunehmendem Alter die Suche nach den eigenen Wurzeln beginnt. Vielleicht hat das mit der Überschreitung der Lebensmitte zu tun. Wenn die Sicht nach vorne kürzer wird, muss man mehr rückwärts, in die Vergangenheit schauen. Während meiner Studienzeit in Wien habe ich mit der Oma zusammengelebt. Unsere Wohngemeinschaft war sehr lustig und freundschaftlich, aber sie redete ganz ungern und selten über ihre Vergangenheit. Eher noch über den indonesischen Teil. Den jüdischen hat sie – wie ich glaube, ganz bewusst – verdrängt. Wenn im Fernsehen ein Hakenkreuz oder Hitler zu sehen war, hat sie sofort abgeschaltet und Atembeschwerden bekommen. Sie war davon körperlich extrem berührt. Die Oma ist schon Anfang der dreißiger Jahre von Berlin weg. Zuerst nach Amsterdam und dann auch gerade noch rechtzeitig von Amsterdam nach Indonesien. Sie hat also vom Nationalsozialismus in Deutschland kaum etwas mitbekommen, aber sie hat ihre ganze Verwandtschaft verloren.
In den achtziger Jahren war die Auseinandersetzung rund um die Nazi-Vergangenheit von Kurt Waldheim für viele Österreicher ein Anlass, sich zum Judentum zu bekennen, auch wenn bis dahin ihr Leben kaum von Herkunft und Religion bestimmt war. War das für Sie auch ein Anlass oder hat eher die derzeitige politische Entwicklung damit zu tun?
Es würde mir falsch vorkommen, gerade jetzt mein Judentum hervorzukehren, das in der Familie bisher kaum eine Tradition hatte. Ich empfinde diese Zugehörigkeit als Ehre, aber andererseits muss ich mir auch eingestehen, dass dieses „Bekennen“ heutzutage – anders als in den dreißiger Jahren – mit keiner Gefahr verbunden ist. Zumindest noch nicht. Die Frau meines jüdischen Onkels ist noch während des Zweiten Weltkriegs zur Religion ihres Mannes übergetreten, und in dieser Zeit gehörte dazu wirklich ein Heldenmut.
Bei welchen Gelegenheiten bekennen Sie sich dazu?
Ich habe einen tollen Gitarristen kennengelernt, Fabian Pollack, der eine ähnliche Geschichte hat wie ich – samt jüdischer Großmutter mütterlicherseits. Auch in seiner Familie war die Religion kaum ein Thema, er hat sich ihr erst später über die Musik angenähert. Seither spielt er in einer Klezmer-Band. Bei gemeinsamen Auftritten habe ich einige der jüdischen Passagen aus Friedinger gelesen und er hat dazu Klezmer-Musik gespielt. Danach haben wir uns darüber unterhalten, was es für uns bedeutet, Jude zu sein. Ob die Besinnung auf diese Wurzeln einen Unterschied macht, wenn man nicht in dieser Tradition aufgewachsen ist. Ich bin allerdings noch nie bei einer FPÖ-Veranstaltung gewesen, um mich dort zu meinem Judentum zu bekennen. Das wäre vielleicht eine interessante Erfahrung.
Aufgrund Ihrer jüdischen Großmutter mütterlicherseits könnten Sie auch einen israelischen Pass beantragen. Damit erhebt sich auch die Frage der Diaspora. Was empfinden Sie als Heimat, wo liegt die Diaspora?
Ich würde mich sehr gerne in die Tradition des österreichischen Judentums der Jahrhundertwende stellen – also in der Nachfolge eines Stefan Zweig und Sigmund Freud. Das ist für mich keine Diaspora, sondern etwas autochthon Wienerisches. Wobei das natürlich historisch gesehen anders ist, denn Theodor Herzl und der Zionismus kommen ja auch aus dieser Zeit.
Wien war in dieser Zeit ein Zentrum der Kultur der Moderne und der Wissenschaft, aber auch des Antisemitismus und des aufkeimenden Deutschnationalismus. Wie erklären Sie dieses Aufeinanderprallen von so extremen Ideologien und Denkweisen in dieser Zeit?
Um 1850 war Wien wirklich noch eher klein und verschlafen – und 1910 war die Stadt eine Metropole mit mehr als zwei Millionen Einwohnern. Mit dem Schleifen der Stadtmauern kam es zum vermehrten Zuzug aus den Kronländern, und mit dem Bau der Ringstraße wurde das Judentum ermuntert, Stadtpalais in der Nähe des Adels zu errichten. Die Juden nahm diese Einladung gerne an und investierten in die Stadterneuerung. Wenn man das in das heutige Weltverständnis umrechnet, muss man sagen: Es gilt Grenzen aufzumachen und den Zuzug von außen als Potenzial für noch mehr Größe zu sehen. Man muss dann aber auch alles tun, um die Neuankömmlinge zu integrieren, was damals ja leider auch nicht passiert ist. Stattdessen wurden nationalistische Gefühle und der aufkeimende Faschismus gestärkt. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir aus der Geschichte lernen.
Der Kutzenberger wird auch in ihrem zweiten Roman eine Rolle spielen, der noch in diesem Jahr erscheinen soll. Kann man ihn als Fortsetzung Ihres Debütromans sehen?
Ich würde mich nicht als Chronist der Zeit sehen, obwohl der zweite Roman das ist, was man „am Zahn der Zeit“ bezeichnen könnte. Es geht letztlich um eine Geschichte, die Bob Dylan und Donald Trump verbindet. Aber die eigentliche Hauptfigur ist wieder dieser Stefan Kutzenberger. Der Ausgangspunkt des neuen Romans ist jedenfalls das Ende vom Friedinger.. Im neuen Roman wird der Kutzenberger in eine Weltverschwörung hineingezogen. Er beginnt mit einer Literaturkonferenz, die ich tatsächlich vor ein paar Jahren in Wien organisiert habe. Der fiktive Kutzenberger hält dort einen Vortrag über Bob Dylan, der mit einer Blamage endet. Trotzdem wird er zu einem Forschungsprojekt auf Island eingeladen und stößt dort auf eine Organisation, die anhand der Dylan-Texte versucht, die Welt zu erklären. Kutzenberger wird aufgefordert, in den Dylan-Texten eine Formel zu finden, wie man mit Donald Trump umgehen soll. Zum Schluss steht er im Weißen Haus Trump persönlich gegenüber und es kommt zum Showdown.
Wie passt dieses Szenario mit Ihrem Wunsch zusammen, nicht als Chronist der Zeit und politischer Kommentator wahrgenommen zu werden?
Sie haben recht – auch wenn ich die Figur Kutzenberger nur einkaufen schicke, dann ist das in gewissem Sinne ein politscher Kommentar. Aber ich möchte zumindest die Parteipolitik heraushalten. Obwohl das auch schwierig ist, denn ich war drei Monate lang Stadtschreiber von Wels, das damals einen blauen Bürgermeister hatte. Es bringt nichts, da hineinzugehen und zu sagen: Ihr seid alle deppert, ihr Blauen! Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, um herauszufinden, warum sie Ihre Stimmen der FPÖ geben. Und es war erschreckend zu erfahren, wie viele Ängste die Menschen haben. Wohlsituierte ältere Damen meinten, sie würden sich nicht mehr aus dem Haus trauen, weil überall kriminelle Ausländer lauern. Die Politiker wären da gefragt, den Menschen diese Angst zu nehmen – aber die wollen das natürlich nicht und schüren diese Sorgen immer weiter.
Die Romanfigur Kutzenberger bekommt zum 45. Geburtstag von seiner Frau einen Schreiburlaub auf Kreta geschenkt. Dort lernt er den Titelhelden Friedinger kennen, der ihm haarsträubende Geschichten über die Voest und den Noricum-Skandal rund um illegale Waffenlieferungen erzählt.
Kutzenberger, der immer schon Schriftsteller werden wollte, gefällt dieser, offenbar auf Fakten beruhende, Politthriller besser als die eigenen Romanideen. Also beginnt er die Friedinger-Geschichte aufzuschreiben und besucht ihn dazu in Linz. Für Kutzenberger ist es eine Art des persönlichen Heimkommens. Er ist zum ersten Mal, seit seine Eltern das Haus verkauft haben, wieder in Linz – womit sich für den realen Buchautor die fiktionalen Erzählstränge mit Autobiografischem vermischen. Gänzlich in den Bereich der Fiktion hingegen verweist der 1971 in Linz geborene Autor den Seitensprung, den sein Namensvetter im Roman mit einer Französin begeht. Als seine Frau davon erfährt und sich von ihm trennt, verliert der fiktionale Kutzenberger alles – nicht nur den Boden unter den Füßen.
Als Stefan Kutzenberger sein Romandebüt Friedinger veröffentlichte, mag so mancher Kollege an der Universität Wien, wo Kutzenberger seit 2005 vergleichende Literaturwissenschaften lehrt, an dessen Erfolg gezweifelt haben. Die Vorhersehbarkeit solcher Reaktionen aus dem akademischen Umfeld hatte Kutzenberger bis dahin von der eigenen Belletristik abgehalten. Aber auch Wissenschaftler fabulieren gern und schreiben aus schierer Lust an der Sprache. „Das Einzige, das noch lächerlicher ist als ein unpublizierter Autor, ist ein Autor, der nicht schreibt“, sagt eine seiner Romanfiguren – mit dem Namen Kutzenberger.(Gabriele Flossmann)
Stefan Kutzenberger Friedinger. Roman Deuticke/Zsolnay, Wien 2018 256 Seiten, 22,70 EUR