Es gibt wenige gute Menschen

In Teil drei der Reihe „Erzählen Sie mir“ erzählt Susanne Guttmann von Glauben, Tradition und dem Unterschied zwischen Männern und Frauen.
Von Ruth Eisenreich

NU: Sie sind 1939 nach Shanghai geflüchtet. Wie haben Sie dort gelebt?

Guttmann: Wir hatten nicht die Absicht zu bleiben. Wir haben ein Affidavit nach Amerika eingereicht – aktuell ist das im 1953er-Jahr geworden! Wir sind in ein internation camp gekommen. Ich habe das als Achtjährige nicht als so furchtbar empfunden. Ich habe geglaubt, das gehört so, dass man keine Schuhe und keine Toilette hat. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich das mit dem vergleiche, was mein Mann in Auschwitz mitgemacht hat. Es ist niemand verhungert oder körperlich angegriffen worden. Wir haben eine Zeitung gehabt, eine Schule, ein Theater. Man hat an ein Leben danach geglaubt.

War es eine schwere Entscheidung zurückzukehren?

Mein Vater wollte nicht nach Wien. Man hat uns ja im wahrsten Sinne des Wortes rausgeschmissen – nachdem Hitler einmarschiert ist, ist das Dienstmädchen gekommen: „Ich muss morgen die Wohnung arisieren.“ Zionist war er auch nicht. Als Israel gegründet wurde, sind wir auf der Straße herumgehüpft, haben getanzt und waren ganz glücklich und euphorisch. Aber mein Vater wollte nicht hinziehen. Im Jahr ’49 sind wir zur Ausreise gezwungen worden. Also sind wir zurückgekommen.

Wie war es, wieder hier zu sein?

Der Bürgermeister hat uns am Bahnhof empfangen. Entschuldigt hat er sich nicht. Man hat uns wieder in ein Lager gebracht, da waren 18 Leute in einem Zimmer, furchtbar. Wir haben zehn oder zwanzig Euro bekommen, damit man sich verköstigen konnte. Dann sind wir in ein Zimmer im zweiten Bezirk gezogen. Ich habe in einem Kaufhaus auf der Mariahilfer Straße gearbeitet.

Was haben Sie dort gemacht?

Strümpfe verkauft. Aber nicht lang. Die haben mich rausgeschmissen, weil ich die G’scherten aus der Provinz nicht verstanden habe. In Shanghai haben wir in der Schule für jedes deutsches Wort Strafe zahlen müssen. Ich kann deutsche Grammatik überhaupt nicht. Dafür bin ich am allerbösesten: Ich habe keine Bildung. Ich bin eineinhalb Jahre in die Volksschule gegangen. Ich habe nichts gelernt, kein Gymnasium. Ich wollte an die Angewandte, Malen lernen: „Kommen Sie wieder mit der Matura!“ Dann habe ich geheiratet, drei Kinder gehabt. Wir haben aufgebaut. Diese Wohnung war im Jahre ’55 eine Ruine. Ein Bekannter war Anstreicher, Elektriker, er hat alles gekonnt und hat die Wohnung wohnfähig gemacht. Dann haben wir langsam die Möbel gekauft. Man hat keinen Kredit gehabt, man hat sich jedes Stückl erspart, mit dem Börsel: „Hab ich genug? Nein, noch ein Monat.“ Das waren schwere Jahre, aber auch schöne.

Inwiefern?

Es war eine andere Welt. Die Leute waren mit weniger zufrieden. Ich glaube, die Kinder waren glücklicher. Wenn man zehn Deka Zuckerl oder ein Buch geschenkt gekriegt hat, das war etwas. Meine Enkel wachsen ganz anders auf. Ich kann heute noch kein Brot wegschmeißen. Ich kaufe kiloweise ein, weil die Angst noch in mir sitzt, dass es nichts mehr gibt. Wir haben einen Riesensprung gemacht – das ist euch gar nicht bewusst. Ich komme mir wie in einer fremden Welt vor. Die Menschen sind die gleichen: ungut. Es gibt wenige gute Menschen. Erst komm ich, dann noch fünf Mal ich, und dann kommt vielleicht – wenn sie glauben – der liebe Gott.

Sind Sie gläubig?

Gläubig? Lauter Blabla. Mir hat eine Krankenschwester gesagt, kurz vor dem Sterben rufen sie nicht nach dem lieben Gott. Die rufen nach der Mutter.

Sie praktizieren aber das Judentum?

Ja, durch meine Kinder. Die Söhne sind sehr praktizierend. Ich zünde Freitag die Kerzen an und bete zum lieben Gott. Aber ich kann mich mit abstrakten Dingen nicht anfreunden. Ich habe einen Enkel, der geht in die Yeshive, der erklärt mir das ganz logisch. Wenn er dann weg ist, glaube ich ein paar Tage daran. Und dann denke ich: Das gibt’s doch nicht. Ich habe die Feiertage gern, aber ich mache es nicht aus Überzeugung. Die Tradition, die liebe ich. Und es macht mir Spaß. Ich beneide gläubige Menschen. Die haben’s leichter. Mein Enkel hat vier kleine Kinder, da ist immer eines krank. Und er sagt: „Gott wird geben, nächste Woche ist es gesund.“ Es wird durch Penicillin gesund, aber gut, das Penicillin hat auch der liebe Gott erfunden.

Wie wurden Sie bei Ihrer Rückkehr aus Shanghai von der österreichischen Gesellschaft aufgenommen?

„I woa ka Nazi, i ned!“ Unsere Hausmeisterin. Die hat den Nazis gezeigt, wo mein Vater war. Sie haben Angst gehabt wegen der Sachen, die sie gestohlen haben. Ich habe 7000 Schilling bekommen. Mein Mann hat gesagt: Nimm es nicht, es ist blutiges Geld. Er ist so traumatisiert! Er war jung, 16 Jahre, er kann es nicht vergessen. Wir haben einmal einen Hund überfahren und ich hab zum Heulen angefangen. Da hat er gesagt: „Sei ruhig! Ich hab gesehen, wie man ein Baby bei den Füßen gepackt und an die Wand gehaut hat und das Hirn ist rausgespritzt – und du weinst über einen Hund!“. Er hat sämtliche 67 Verwandte in Auschwitz verloren. Er hat gesehen, wie seine Mutter in den „Waschraum“ geführt wurde. Das sind Sachen, die stecken in einem drin wie Giftpfeile. Meinen Vater haben acht Monate Dachau kaputtgemacht. Er hat sein ganzes Leben nicht darüber gesprochen. Da genügt ein Tag, wenn man so was erlebt. Diese Sachen sind so unmenschlich, dass ich den Glauben an die Menschheit verloren habe. Wie haben Menschen das anderen Menschen antun können? Ich verstehe es nicht.

Haben Sie nach 1949 noch offenen Antisemitismus erlebt?

Ich habe darauf gewartet, aber es ist mir nichts passiert. Nach außen hin waren sie alle judenfreundlich: „Ich hab einen Freund, den Cohn, der ist zwar ein Jud, aber ein netter Kerl.“

„Aber“.

„Aber“. Es ist nicht leicht, ein Jud zu sein. Man mag uns nirgends. Das bleibt uns wie ein Rucksack am Buckel.

Der Antisemitismus ist noch immer da?

Natürlich! Irgendwann kommt es raus. Im Spital sind neben mir zwei ältere Frauen gelegen. Die haben geschimpft auf die Tschuschen, dann auf die Muslime, dann auf die Schlitzäugigen. Sag ich: „Und wann komm ich dran?“. Schaut sie mich an, sag ich: „Ich bin eine Jüdin.“ Die ist so rot geworden wie ein Paradeiser: „I war nie a Nazi!“. Mein Gott, die war kein Nazi. Und dann hat sie mir erzählt, wie sie von den Nazis profitiert hat.

Hat sich die Einstellung der Österreicher nicht geändert?

Nein. Es will ja niemand mehr was davon wissen. Ich habe gestern das Lehrmädchen beim Friseur gefragt: Weißt du, was die Kristallnacht ist? Da hat sie mich ganz blöd angeschaut. Die haben keine Ahnung, es interessiert sie nicht. Es ist Geschichte geworden. Ich bin auch keine Österreicherin – ich bin eine wurzellose Person.

Haben Sie nach ihrem Rausschmiss im Kaufhaus wieder gearbeitet?

Ich habe die Kinder erzogen, meine Mutter hier gehabt, nachdem sie Witwe wurde, und in der Nacht im Büro mitgearbeitet. Wir haben Computerteile aus Japan nach Ungarn geschickt. Das war viel Arbeit, und nachdem mein Mann keine Angestellten wollte, habe ich das in der Nacht hier gemacht.

Es geht ja in dieser Reihe auch um die Situation von Frauen …

Warum? Sie sind doch keine Emanze, um Gottes Willen? Ich habe mich mit diesem Thema nie beschäftigt. Ich bin von der Idee der Emanzipation nicht begeistert. Ich wünsche mir keine Frauen in der Regierung. Die sind nicht gleich wie die Männer, weder optisch noch seelisch, wenn sie sich noch so bemühen. Da müssen sie das Frauentum beiseite schieben.

Was sollten Frauen denn tun?

Das ist altmodisch: Frauen sollten nicht das tun, was Männer leichter und besser können. Ich sehe das bei meinem Sohn: Er badet die Kinder und kocht das Nachtmahl und sie sitzt am Computer. Ist das normal? Er ist bestimmt am Computer besser als sie und umgekehrt. Männer haben andere Funktionen. Sie sind freier, haben die Belastung der Erziehung nicht. Die sorgen sich nicht, ob das Kind zuhause Fieber hat, ob man was zum Kochen hat, ob das Bett überzogen ist.

Ist das nicht anerzogen?

Ich glaube, dass es in der Natur so beschaffen ist. Es werden aus euch nie Männer werden.

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