Karl Schwarzenberg, früherer Berater von Tschechiens Präsident Vaclav Havel, erklärt, warum er viele Gemeinsamkeiten zwischen Adel und Judentum sieht, warum sich deren Schicksal aber dennoch nicht vergleichen lässt – und warum er sich selbst immer zur jüdischen Welt hingezogen fühlte.
Von Barbara Toth
NU: Herr Schwarzenberg, finden Sie, dass sich das Schicksal des Adels und der Juden vergleichen lässt? Schwarzenberg: Nur in einem. Beides sind soziale Gruppen, die eine Minderheit sind, praktisch in jeder Gesellschaft. Das ist die wesentliche Gemeinsamkeit. Alle Minderheiten bilden gewisse Verhaltensweisen heraus. Der wesentliche Unterschied zwischen Adel und Judentum ist, dass der Adel eine Gruppe ist, die sich in fast allen Ländern in verschiedenen historischen Zeiten entwickelt hat, der sich aber, wenn sich die gesellschaftliche Situation veränderte, wieder auflöste. Das ist unzählige Male passiert. Wohingegen Juden diesbezüglich in einer etwas besseren Position sind, weil sie eine höhere Garantie haben: Sie sind das auserwählte Volk und das ist etwas ganz anderes. Sie sind in ihrer eigenen Religion verankert. Es gibt keine Religion des Adels. Sie klingen da fast ein wenig neidig. Der Adel ist nur eine Oberschicht, die in verschiedenen Ländern sehr ähnliche Eigenschaften entwickelt hat. Wir sind eine entstehende und vorübergehende Erscheinung. Auffällig ist, dass sowohl im Adel wie im Judentum Erziehung, Bildung, Tradition im Allgemeinen eine besondere Rolle spielten. Der Versuch, an der eigenen Identität festzuhalten, ist allen Minderheiten gemeinsam und ist natürlich sehr stark von Traditionen bestimmt. Dieses Festhalten kann aber auch zu einem sinnentleerten Erstarren werden. Sehr viele Traditionen werden mit der Zeit sinnentleert, natürlich. Es gibt auch Traditionen, die ihren Sinn behalten haben, aber trotzdem im Abbauprozess begriffen sind. Es gibt viele harmlose Traditionen, aber auch solche, die – vor allem, wenn die soziologischen Gegebenheiten völlig andere sind – schädlich sein können. Welche Traditionen würden sie denn für das Weiterbestehen einer Minderheit als schädlich bezeichnen? Vielleicht das Conubium, also die Regel, ausschließlich seinesgleichen zu heiraten? Das Conubium löst sich bei beiden Gruppen seit dem 19. Jahrhundert auf. Wenn es übertrieben wird, wird es schädlich. Auf der anderen Seite erleichtert es eine der schwierigsten Lebensaufgaben überhaupt. Wie Heraklit gesagt hat: “Heirate das Mädchen aus deinem Dorfe”. Je mehr es gemeinsame Interessen, Erziehung, Kultur gibt, darauf basierende gemeinsame Reaktionen, desto leichter lassen sich kritische Zeiten überdauern. Wenn wir von der Tatsache ausgehen, dass in 99 Prozent der Fälle die große Liebe nach einiger Zeit vorbeigeht, die physische Attraktion, wie alles, mit der Zeit endet, erleichtern diese Gemeinsamkeiten das Zusammenleben doch sehr. Das sind die Vorteile eines vernünftigen Conubiums. Im Adel galt jemand nur dann von feinster Herkunft, wenn er 16 adelige Ururgroßeltern nachweisen konnte. Vernünftig? Im Judentum ist es ja noch dazu so, dass man nach der Halacha nur von vornherein jüdischer Abstammung ist, wenn die Mutter Jüdin war. Mater semper certa est. Letzten Endes hat jemand aus einer anderen Religion selten ein wirkliches Verständnis für das Essenzielle der jüdischen Religion. Wie wohl beim Adel auch. Es gibt Adelige, die die Verfolgung ihres Standes mit jener der Juden vergleichen. Das ist absoluter Blödsinn. Diese Verfolgung ist nicht in einem Atem zu nennen. So bedauerlich die Massakrierung des Adels während der Französischen oder Russischen Revolution ist, mit der Shoa lässt sich das nicht vergleichen. Richtig ist, dass in kritischen Zeiten und in totalitären Systemen die Minderheiten immer geprügelt und massakriert werden. Totalitäre Systeme streben Egalisierung an, deshalb sind sie geneigt, eine Minderheit zu unterdrücken. Woher rührt Ihrer Meinung nach das besondere Verhältnis des Adels zum Judentum? Einerseits hat der Adel zahlreiche Judenschutzgemeinden in Mitteleuropa gegründet. Auch die Schwarzenbergs haben in Winterberg nach langem Kampf einen Schutzjuden, Vocasek, angesiedelt, was eine große Wohltat für die Stadt war, weil die Nachkommen bedeutende Industrieunternehmen gegründet haben. Im 18. Jahrhundert gab es immer wieder Auseinandersetzungen. Im Landkreis Kleggau gab es eine lange Korrespondenz zwischen der fürstlichen Hofkanzlei und den getreuen Untertanen, die sich beschwerten, dass es zu viele Juden gab. In Franken hatten wir eine der bedeutendsten Judengemeinden in Markbreit. Das war eine Hafenstadt. Fürst Adam Franz, ein typischer prachtliebender Barockfürst, wollte den reichsten Bürger kennen lernen. Das war natürlich ein jüdischer Unternehmer. Als der Fürst sein schäbiges Haus sah, sagte er zu ihm: “Du hast unter meinem Schutz gut verdient, tu etwas für die Stadt und baue ein deinem Reichtum entsprechendes Haus.” Daraufhin entstand ein barockes kleines Palais. Das führte dazu, dass der emsige, zweitreichste Handelsmann, ein Evangele, gleich daneben ein ebenfalls reich verziertes Haus hinstellte. Beide schmücken noch heute die Stadt. Andererseits gab es und gibt es auch noch immer ein gegenseitiges Misstrauen. Sie hatten, als sie Anfang der fünfziger Jahre nach Wien kamen, selber viele jüdische Freunde. Suchten Sie bewusst den Kontakt? Das war mehr aus intellektuellem Interesse. Durch meinen Onkel lernte ich sehr früh Friedrich Torberg und damit eine ganz andere Welt kennen. Auch meine Mutter hatte sehr viele jüdische Freunde. Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten – und dazu eine schöne Geschichte: Als in Belgien die Sprachstreitigkeiten begannen, wurde auch die belgische Armee in Sprachgruppen aufgeteilt. In der Kaserne mussten alle Rekruten antreten. Der Offizier befahl: “Wallonen, einen Schritt rechts! Flamen, einen Schritt links!” Daraufhin blieben zwei Männer stehen. Der Offizier fragte sie: “Seid ihr Belgier?” Beide nickten. “Wie heißen sie?” “Lobkowicz”, sagte der eine. “Goldstein”, der andere. Wir haben eben gewisse Schwierigkeiten, uns allzu einseitig zu definieren. Ab September ist das Buch “Karl von Schwarzenberg. Die Biografie” von NU-Autorin Barbara Toth erhältlich. 224 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, Schwarz-Weiß-Abbildungen, Euro 19,95, erschienen im Ueberreuter Verlag, ISBN3-8000-7119-3.