Zwei aktuelle Anthologien verhandeln jüdischen Alltag und jüdische Geschichte in Comicform.
VON MARTIN REITERER
Eine jüdische Geschäftsfrau, die Ende des 17. Jahrhunderts als erste Frau in Deutschland eine Autobiografie verfasste. Ein berüchtigter jüdischer Räuberhauptmann und Gegenspieler von Schinderhannes. Eine jüdische Berufsfachschule in Darmstadt, die Jugendliche nach dem Zweiten Weltkrieg auf Israel vorbereitete. Oder zwei jüdische Kinder aus Deutschland, die in 13 Verstecken in den Niederlanden die Nazizeit überlebten.
Zwei aktuelle Anthologien befassen sich mit jüdischer Kultur und Geschichte – mit jüdischem Leben und Alltag in Deutschland vom Mittelalter bis zur Gegenwart sowie mit Erinnerungen von jüdischen Zeitzeugen, die die Schoa als Kinder erleben mussten. Das Besondere: Im Mittelpunkt stehen jeweils Comics von unterschiedlichen Zeichnerinnen und Zeichnern, die sich durch ihre Bildhaftigkeit als herausragendes Medium erweisen. Eingebettet sind sie in abwechslungsreich gestaltete Textbeiträge, die Themen und Aspekte weiterführen oder sozial und historisch einordnen.
Anlass für die Anthologie Nächstes Jahr in waren die Feiern zur jüdisch-deutschen Kulturgeschichte im Jahr 2021: Seit 1700 Jahren gibt es, nachweislich, jüdisches Leben in Deutschland, wie ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin von 321 belegt, und ist damit integrativer Bestandteil der europäischen Kultur. Nun ist der feine Band mit dem Untertitel Comics und Episoden des jüdischen Lebens in zweiter Auflage erschienen.
Aus fünf Jahrhunderten haben die Herausgeber und Autoren ungewöhnliche Episoden jüdischen Lebens zusammengetragen und zu einem weit verzweigten Netz aus spannenden, überraschenden Geschichten geknüpft. Weit gefasst ist dabei auch das soziale Spektrum, sodass Lebensgeschichten von Künstlerinnen und Widerstandskämpferinnen, Gaunern und Kaufleuten nebeneinander stehen. Meist nehmen die Comics den Faden einer Geschichte auf oder richten das Augenmerk auf eine historische Persönlichkeit. Diese anschaulich inszenierten Episoden werden dann jeweils im Anschluss weiter kontextualisiert und verortet.
Der thematischen und ästhetischen Vielfalt, der Bandbreite jüdischer Geschichte zwischen Erfolg und Verfolgung, Assimilation, Ausgrenzung und Antisemitismus entspricht die stilistische Mannigfaltigkeit der großteils sehr gelungenen Umsetzung durch die jungen, deutschen Zeichner und Zeichnerinnen. So ist Simon Schwartz’ Beitrag über Die Darmstädter Haggada von mittelalterlicher Buchmalerei oder Elke Renate Steiners Strip über die Memoiren der Glikl bas Judah Leib (1646/1647–1724) von neuzeitlicher Buchillustration angeregt. In ihrem Comic Sehen lernen über den expressionistischen Maler und Dichter Ludwig Meidner (1884–1966) zitiert die Zeichnerin Elke Büke nicht nur aus dessen manifestartigen Anleitung zum Malen von Großstadtbildern (1914), sondern setzt seine Großstadtästhetik auch grafisch um. In gemäldeartigen Panels vertieft sich Barbara Yelin Zeile für Zeile in das Gedicht Kein Kinderlied von Mascha Kaléko (1907–1975), in der die metaphysische Heimatlosigkeit im „Nirgendland“ vieler Jüdinnen und Juden nach der Schoa zum Ausdruck kommt. Einer Collage-Ästhetik hingegen bedienen sich Moni Port und Miriam Werner, die vollends in der Gegenwart ankommt: In Ich Jetzt Hier wird das Jüdischsein als das Selbstverständliche aufgefasst, das es sein sollte: Es lässt Fragen zu und genauso Antworten, aber desgleichen offene Fragen, wie sie jeder menschlichen Existenz eignen.
Bruchstücke
In Aber ich lebe, einem mehrjährigen Forschungsprojekt mit interdisziplinärer Beteiligung, haben vier Überlebende des Holocaust in Gesprächen ihre Erinnerungen an Barbara Yelin und Miriam Libicki sowie an den Illustrator und Comickünstler Gilad Seliktar weitergegeben.
Die spürbar intensive Zusammenarbeit macht sich in allen Beiträgen bemerkbar und wird durch unterschiedliche ästhetische Annäherungen ersichtlich. Yelin traf ihre ihre Gesprächspartnerin Emmie Arbel, die die Schrecken des Konzentrationslagers Ravensbrück ertragen musste, in Israel getroffen. Dass ihr Comic bei Arbel zu Hause spielt, oder unterwegs in einem Café, hebt sehr präzise einen bedeutenden Aspekt hervor: Erinnerungen finden stets in der Gegenwart statt, durchkreuzen diese, prägen sie und können – aus unterschiedlichen Gründen – auch Lücken aufweisen. „Ich erinnere mich nicht.“ Wiederholt spricht die inzwischen über 80-Jährige diesen Satz aus. „Manche Sachen weiß ich. Aber ich erinnere mich nicht.“
Die Zeichnerin räumt gerade auch diesem Nicht-Erinnern Platz ein: Emmie war „viereinhalb, als zwei Polizisten zu uns kamen und uns ins Lager Westerbork brachten“. Erinnerungen aus diesem frühen Kindesalter sind häufig bruchstückhaft. Sie waren für Kinder zudem oft unaussprechbar oder unausdrückbar. Außerdem haben „Kinderüberlebende (…) jahrzehntelang geschwiegen (…), wurden oft übersehen oder zum Schweigen gebracht“, wie es die Historikerin und Holocaustforscherin Dienke Hondius beschreibt.
Das gilt insbesondere für die Erlebnisse von Kindern, die nicht durch Konzentrationslager gegangen sind. Die in Vancouver lebende US-israelische Comickünstlerin Miriam Libicki hat in ihrem Beitrag Jenseits der Regeln die Geschichte David Schaffers aufgezeichnet, der als Kind zusammen mit seinen Eltern zuerst von den Nazis von ihrem Haus am Land in der rumänischen Bukowina vertrieben und in ein Ghetto gesperrt wurde, bevor die Familie es wagte, vor ihren Mördern zu fliehen.
In Dreizehn Geheimnisse erzählen die Brüder Nico und Rolf Kamp, wie sie im Alter von drei bzw. sechs Jahren nach ihrer Flucht aus Deutschland in den Niederlanden von Versteck zu Versteck den Nazis entkamen. Der israelische Zeichner Gilad Seliktar macht in seinen zurückhaltenden Zeichnungen und seiner Kolorierung die Spannung zwischen geheimer temporärer Sicherheit und ständiger Gefahr nachvollziehbar: Ein Versteck, ein Geheimnis, zu hüten, ist für einen Fünfjährigen keine Selbstverständlichkeit; es zu verraten, kann jedoch höchste Gefahr bedeuten.
Bemerkenswerterweise haben die Künstlerinnen und Künstler die Verbindung zu ihren eigenen noch kleinen Kindern als hilfreichen Erfahrungsbezugspunkt erwähnt, um die Erlebnisse der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen emotional besser zu verstehen. Doch auch für die andere Seite war der dialogische Austausch eine gelungene Erfahrung, auch hinsichtlich der verwendeten Kunstform: Obwohl der Comic bei einigen der Zeitzeugen anfänglich auf teils erhebliche Ablehnung stieß, veränderte sich diese Haltung im Lauf der Annäherung. Ein Grund dafür mag die Bildhaftigkeit kindlicher Wahrnehmung sein. Zudem lässt sich im Comic das Ineinanderfließen von erinnerter Vergangenheit und Gegenwart einzigartig darstellen.
Besonders anschaulich wird das in Yelins Beitrag: Während Emmie in ihrer Küche vom zermürbenden Hunger im Konzentrationslager erzählt, sammelt ihre Tochter draußen im Garten frisches Obst. Emmies Mutter starb wenige Tage nach der Befreiung von Ravensbrück an Schwäche und Hunger. Zwei Bilder aneinandergereiht, die tote Mutter und das Obst im Garten, zeigen mit stillschweigender Präzision, wie der bittere Schmerz der Erinnerung die Gegenwart trifft.
M. Heinigk, A. Herden, J. Engelman, J. Hoffmann (Hg.)
Nächstes Jahr in. Comics und Episoden des jüdischen Lebens
Ventil Verlag, Berlin 2021
168 S., EUR EUR 25,–
Barbara Yelin, Miriam Libicki, Gilad Seliktar
Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust
C.H.Beck, München 2022
176 S., EUR 25,–