Von Martin Engelberg
In der Auseinandersetzung der Kultusgemeinde mit der Regierung ist hinsichtlich des Stils und der Strategie ein interessantes Phänomen der Juden unserer Generation, der so genannten zweiten nach der Schoah, zu beobachten: Nachdem es der Kultusgemeinde in den Jahrzehnten nach dem Krieg scheinbar nicht gelungen ist, eine angemessene Restitution für Gemeinde und Mitglieder gegenüber Österreich durchzusetzen, werden jetzt – in einer Art Gegenbewegung – mit sehr viel Selbstbewusstsein und unter Berufung auf Moral und Rechtsstaatlichkeit, sämtliche Ansprüche eingefordert. Nun ist es zwar richtig, dass bis vor etwa fünfzehn Jahren die Durchsetzung von Ansprüchen gegen die Republik Österreich sehr schwierig war. Tatsache ist aber auch, dass es seither vor allem seitens der Stadt Wien, aber auch seitens des Bundes, eine Fülle finanzieller Zuwendungen gegeben hat. Diese Zahlungen erfolgten jedoch sehr diskret und hinter den Kulissen, fast in einer Art heimlicher Entschädigung und Wiedergutmachung, und in beiderseitigem Einvernehmen. Es waren Gelder im Rahmen bestehender Förderbestimmungen (z. B. Wohnbauförderung oder diverse Sozialförderungen), wenn auch unter maximaler Ausnutzung derselben. Die jüdische Gemeinde konnte dadurch eine sehr umfangreiche Infrastruktur aufbauen (Schulen, soziale Einrichtungen, z. B. ESRA).
Diese Tatsache führt uns zurück zu dem eingangs erwähnten Paradoxon, das unsere Generation kennzeichnet: Obwohl wir wissen, dass in diskreten, hinter den Kulissen stattfindenden Verhandlungen womöglich ein finanziell besseres Ergebnis zu erzielen wäre, ist uns die öffentliche Auseinandersetzung wichtiger. Es ist uns wichtig aufzustehen, erhobenen Hauptes unsere legitimen Forderungen zu stellen und uns dabei weniger um Fragen des Stils, der Angemessenheit der eingesetzten Mittel oder der Befindlichkeit des Gegenübers zu scheren. Denn schließlich haben wir das Gefühl, dass wir ohnehin zu lange Opfer waren.
Wie also in der einschlägigen Literatur ausführlich beschrieben, übernimmt auch in unserer Gemeinde die zweite Generation die Aufgabe ihrer Eltern, Mord, Raub, Erniedrigung und Schmach der Schoah zu rächen. „Nie wieder“, schwören wir einander und allen anderen. Diese Haltung hat eine ganz wichtige psychologische Funktion für uns. Doch es besteht die Gefahr, dass diese Haltung so unser Handeln bestimmt, dass dieser Kampf sogar einen wichtigen Teil unserer Identität als Juden ausmacht. Denn jene, die selbstbewusste, aufrechte und mutige Juden sind, die sich auch in ihrer politischen Meinung nicht zurückhalten, es aber wagen, den Stil der Kultusgemeinde zu kritisieren, werden als Verräter diffamiert und attackiert, wie zuletzt beim so genannten Bürgerforum im Stadttempel. „Glauben Sie denn, dass es uns Spaß macht, Tag für Tag diesen Kampf zu führen?“, fragte schmetternd der zur Verteidigung Muzicants aus Deutschland herbeigeeilte Michel Friedman ins zum „Bürgerparlament“ versammelte Publikum. In diesem Moment sah ich eine Frau im Publikum unwillkürlich nicken, die nachher, danach gefragt, ironisch meinte: „No na macht es ihm keinen Spaß.“ Sie hat intuitiv erfasst, wie sich bei Friedman (und ähnlich bei Muzicant) das Agieren des Gelöbnisses „Nie wieder“, der Kampf gegen „die Verbrecher“ als Hauptmerkmal jüdischer Identität, mit dem politischen Handeln vorteilhaft verbinden lassen.
Vor diesem Hintergrund ist auch viel besser verständlich, warum gerade der Oberkantor des Stadttempels auf die Kündigungsliste der IKG gesetzt wurde. Die drohende Kündigung des allseits beliebten, geschätzten Oberkantors, Symbol einer lebenden Gemeinde, sollte die Gemeindemitglieder aufrütteln und sie im Kampf gegen die Regierung instrumentalisieren. (Natürlich hätte die Kultusgemeinde auch andere, weniger drastische Sparmaßnahmen setzen können, die womöglich sogar begrüßt worden wären: Würde es jemand stören, wenn die Zeitung
„Gemeinde“ auf ein Mitteilungsblatt – mit den Hochzeiten, Bar Mitzwahs, Todesfällen, Gebetszeiten und Berichten über die jüdischen Vereine – reduziert würde, wo darüber hinaus ohnehin nichts gelesen wird? Wie sieht es aus mit Mitarbeitern, die gerade erst in Präsidium und Amtsdirektion angestellt wurden, deren Aufgabe die zahlreicheren Medienauftritte sind? Wieso wurden die Steuern abgeschafft und an ehemalige Mitarbeiter – entgegen rechtlicher Empfehlungen – Abfertigungen von Millionen Schilling geleistet, während man die Gemeindemitglieder im Glauben ließ, das würde das Budget schon aushalten?)
Der oben beschriebenen Haltung fast diametral entgegengesetzt stehen die Orthodoxen unserer Gemeinde, denen fast ausschließlich die Aufrechterhaltung des religiösen jüdischen Lebens am Herzen liegt. Das politische Agieren der Kultusgemeinde ist ihnen ein Gräuel, übertriebenes Selbstbewusstsein und der Kampf gegen den Antisemitismus erscheinen ihnen als falsch und sinnlos. Gestärkt, wenn nicht sogar angeführt, wird die Orthodoxie durch die Lubawitscher, die sich im Laufe der letzten Jahre zu einem Zentrum der gelebten „Jiddischkeit“ entwickelt haben. Sie übernehmen sukzessive das geistige jüdische Leben in allen Facetten, weil hier die IKG im Laufe der Jahre ein völliges Vakuum hinterlassen hat. Es ist zu befürchten, dass sich genau an dieser Trennlinie die Gemeinde spaltet. Während die IKG ihr Selbstverständnis im Kampf mit der Regierung, den äußeren und inneren Feinden sucht, werden sich die Orthodoxen mit ebendieser Regierung und den äußeren und inneren Feinden arrangieren (zumal ihnen die IKG in nächster Zeit als Erste den Geldhahn zudrehen wird).
Gelingt es uns nicht, den Kurs und den Stil der IKG zu ändern, werden wir erleben, wie die politische Bedeutung der jüdischen Stimme durch eine Spaltung der IKG zerbröselt und wir uns zwischen der Mitgliedschaft in zwei oder mehreren Kultusgemeinden entscheiden werden müssen.
Prominente Gemeindemitglieder haben eine Protestnote verfasst, um ihre Empörung über die mögliche Kündigung des Oberkantors zum Ausdruck zu bringen. Die Protestnote mit vielen Unterschriften wird in diesen Tagen dem Kultusvorstand übergeben.