Ein literarisches Fundstück.
Von Herbert Voglmayr
Vladimir Jabotinskys jahrzehntelang verschollener Roman Die Fünf ist eine ergreifende Elegie auf das bürgerlich- jüdische Odessa, das um 1900 seinem Untergang entgegengeht. In einer geschmeidigen, elegant-beiläufigen Sprache, die den Leser unmerklich in ihren Bann zieht, beschreibt er das bunte Odessa im letzten Glanz des Zarenreiches, das Odessa der Wortspiele und geistreichen Unterhaltungen, bekannt für seinen schalkhaften und leicht schlitzohrigen Humor, ein polyglottes Vielvölkergemisch, in dem man „das schönste Lied der Menschheit hören kann: hundert Sprachen“. Jabotinsky, 1880 in Odessa geboren, schildert das verflossene Paradies seiner Jugend und die Vertreibung daraus am Beispiel des tragischen Zerbrechens der jüdischen Familie Milgrom, deren Schicksal eng mit dem ihrer Stadt verbunden ist.
Der Glanz der blühenden Stadt wird am Vorabend der Revolution langsam getrübt vom heraufziehenden Niedergang. In die heitere Sorglosigkeit des Bürgertums schleicht sich Misstrauen gegen revolutionäre Schwarmgeister einerseits, gegen zaristische Agenten andererseits. Die liberale Gesellschaft verliert langsam ihre Offenheit, erkennbar an Überwachungsmaßnahmen seitens der zaristischen Obrigkeit, an der Zensur von Zeitungsberichten, an der Gründung von Bürgerwehren und deren Bewaffnung, an Zielübungen mit Pistolen vor dem heimischen Spiegel, bis der Aufstand, den Eisenstein in Panzerkreuzer Potemkin verewigt hat, das Ende der alten Zeit anzeigt. Ein Hauswart, der vom dienstbeflissenen Arbeiter zum einschüchternden Überwacher mutiert, wird von der Polizei verpflichtet, als es darum geht, die erste Demonstration niederzuknüppeln. Die Veränderungen spiegeln sich im Schicksal der fünf Kinder der Familie Milgrom: Die warmherzige, alle bezaubernde Marussja verbrennt bei lebendigem Leib, der nihilistische Filou Serjosha mit Hang zur Gaunerei wird von einem gehörnten Ehemann mit Säure geblendet, der naive Marko bricht bei Nebel im Eis ein und verschwindet spurlos, der kühl-intellektuelle Karrierist Torik konvertiert, und die humorlose Fanatikerin Lika wird kommunistische Agentin, die später in Stalins Gefängnissen umkommt.
Der Roman wurde bei seiner Erstveröffentlichung 1936 in Paris kaum beachtet und nach 2000 in Russland neu aufgelegt. Es ist dem Verlag „Die Andere Bibliothek“ zu danken, dass er nun auch auf Deutsch vorliegt – und vom deutschsprachigen Feuilleton für seine literarische Qualität gerühmt wird, wie zuvor schon von der russischen Kritik. Die Fünf steht in einer Reihe von Neu- und Wiederentdeckungen russischer Literatur in den letzten Monaten, zu denen Gaito Gasdanows – ebenfalls erstmals auf Deutsch verlegter – Roman Das Phantom des Alexander Wolf ebenso gehört wie die Neuübersetzungen von M. Agejews Roman mit Kokain und Michail Bulgakows Meister und Margarita. Jabotinsky war zudem als Romanautor so gut wie unbekannt, er wurde bisher vor allem als Journalist und zionistischer Politiker wahrgenommen. Der Verlag erzählt über den Autor fast nichts, obwohl die Kenntnis seines schillernden Lebenslaufes das Leseerlebnis bereichern würde. Daher etwas mehr über ihn.
Zionist und vehementer Anti-Sozialist
Vladimir Ze’ev Jabotinsky, ein ebenso charismatischer wie umstrittener Führer des politischen Zionismus, wurde 1880 in Odessa als Sohn einer jüdischen, assimilierten Familie geboren und starb 1940 in den USA. Während der Studienjahre in Rom wurde er stark beeinflusst vom Nationalismus Garibaldis, der zur Vereinigung Italiens geführt hatte. Laut eigener Aussage ist er in Italien Zionist geworden. Durch das Pogrom von Kishinew politisiert, nahm er 1903 erstmals am Zionistenkongress teil. Er wurde Mitglied des Exekutiv- Komitees der World Zionist Organization (WZO) und führte in weiterer Folge als vehementer Anti-Sozialist deren rechten Flügel. Der politische Falke wandte sich gegen die gemäßigten Zionisten um Chaim Weizmann und gründete 1923 die Union der Zionistischen Revisionisten und die Jugendbewegung Betar, welche organisatorisch die Einwanderung europäischer Juden nach Palästina unterstützten, führend im Warschauer Ghetto-Aufstand kämpften und die Untergrundaktivitäten gegen die britische Mandatsmacht in Palästina dominierten. Jabotinskys Bewegung war nicht monolithisch, sondern bestand aus mehreren Fraktionen, von denen die moderateren die Kooperation mit den Briten suchten, während andere die Mandatsmacht erbittert bekämpften. Jabotinsky sah in den 1930er-Jahren klar, dass in Europa das Leben von Millionen Juden bedroht war und propagierte das Zusammenleben mit den Palästinensern in einem jüdisch dominierten Staat, mit gleichen Bürgerrechten für beide Volksgruppen. Ab 1937 leitete er die Geheimorganisation Irgun, die den Guerillakampf gegen die britische Besatzungsmacht anführte, was auch Attentate auf Märkten einschloss, bei denen zufällige Passanten, Araber wie Juden, starben. Nach Jabotinskys Tod radikalisierte sich die Irgun unter der Führung Menachem Begins (besonders als die Briten begannen, jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland abzuweisen) und verstärkte die Terroranschläge auf britische Einrichtungen und Vergeltungsschläge gegen Araber. Der politische Flügel der Irgun sammelte sich nach Gründung des Staates Israel in der Cherut-Partei, die den Kern des Likud-Blocks bildet.
Als Jabotinsky in den USA starb, wurde seine Beerdigung in Israel von David Ben Gurion abgelehnt mit der Begründung, Israel brauche nicht tote, sondern lebende Juden, und er sehe keinen Segen in der Vermehrung von Gräbern in Israel. 1964 gestattete Ministerpräsident Levi Eschkol die Überführung der sterblichen Überreste und deren Bestattung auf dem Herzlberg in Jerusalem. In Israel sind mehr Straßen und Plätze nach Jabotinsky benannt als nach Theodor Herzl.
Neben seiner politischen Tätigkeit war er Journalist, Hebraist und vielsprachiger Übersetzer, der unter anderem Dante und Goethe ins Hebräische übersetzte. Sein literarisches Werk besteht neben dem hier besprochenen Buch aus dem Roman Richter und Narr (über die biblische Samson- Figur, erscheint im Herbst 2013 auf Deutsch), einer Autobiografie sowie Novellen, Gedichten und Theaterstücken. Es wurde nach 2000 in Russland erstmals als Gesamtwerk ediert. Da war das multikulturelle Odessa längst untergegangen. Die Fünf endet mit der Erkenntnis, dass das eigene Heiligtum so wenig oder viel wert ist wie das der anderen, und dem Gedanken, was für ein wunderbares Wort „Zärtlichkeit“ ist, in wie vielen Dingen dieser Welt sie sich ausdrückt, nicht zuletzt im Lachen. Man ahnt, was der Schmerz, die alte Welt zu verlieren, bedeutet haben muss und wie ein großartiger Autor im politischen Untergrund zum Extremisten wurde. Der Roman erzählt davon, wie das zu vermeiden wäre.
Vladimir Jabotinsky
Die Fünf
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Die Andere Bibliothek, Berlin 2013
267 Seiten, 22 EUR