Der katarische Sender Al Jazeera wurde in Israel verboten – wegen angeblicher Hamas-Propaganda. Seine Verantwortlichen bestreiten das. Wer den arabischen Ableger schaut, bekommt jedoch ein ziemlich eindimensionales Bild geliefert.
Von Daniel Böhm (Beirut)
Mohammad Hamdan, der Nachrichtensprecher von Al Jazeera Arabic, dem arabischsprachigen Kanal des katarischen Satellitensenders, moderiert einen Beitrag an. Darin geht es – wie könnte es auch anders sein – um die schreckliche Lage in Gaza. Acht Mitglieder einer palästinensischen Familie seien dort am Vortag bei einem Bombenangriff der israelischen Armee getötet worden, sagt Hamdan.
Hinter ihm laufen derweil finstere Bilder über die Studiowand: von zerstörten Gebäuden in Gaza, von dem israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant und dem vermummten Gesicht des Hamas-Sprechers Abu Ubaida. Dann wird in den Küstenstreifen geschaltet: Man sieht Menschen, die durch Krankenhauskorridore rennen, Verletzte, verzweifelte Angehörige und am Ende eine Reihe von Toten, eingewickelt in weiße Tücher.
Kommentiert wird der Beitrag nicht. Er wirkt dadurch roh, direkt und umso emotionaler. Immer wieder sendet Al Jazeera solche Stücke. Es sind unmittelbare Einblicke in einen brutalen Krieg.
Bedrohung der nationalen Sicherheit
Stundenlang geht das so. Zwischendurch lädt Hamdan einen irakischen Militärexperten ins Studio, der gemeinsam mit einem weiteren Moderator an einem interaktiven Bildschirm den Vormarsch der israelischen Truppen in Gaza analysiert. Der palästinensische Widerstand schlage sich gut, sagt der Mann. Wer ihm zuhört, bekommt den Eindruck, Israel stünde vor einer Niederlage – und fragt sich, wie es dessen Armee überhaupt bis nach Gaza geschafft hat.
In Israel selbst sind diese Bilder inzwischen nicht mehr zu sehen. Dort ist der Sender seit Anfang Mai nämlich verboten. Polizisten stürmten seine Büros in Jerusalem, wenig später verschwand Al Jazeera von den Bildschirmen und vom Netz. Der Kanal sei eine Bedrohung der inneren Sicherheit, hieß es aus Regierungskreisen. Von israelischen Journalistenorganisationen wird das Verbot kritisiert – es widerspreche der Pressefreiheit, sagen sie.
Ist der Sender wirklich eine Propagandaschleuder für die Hamas, wie die Israeli behaupten? Tatsächlich berichtet das arabische Al Jazeera so intensiv aus Gaza wie kein zweites Medium. Der Sender widmet sich nahezu ausschließlich dem Krieg, er hat eigentlich kein anderes Thema mehr. Dabei kann er auf zahlreiche Reporter vor Ort zurückgreifen – ganz im Gegensatz zu westlichen Medien, deren Journalisten nicht in den Küstenstreifen einreisen dürfen.
Nach außen hin hochprofessionell
Die lokalen Al Jazeera-Mitarbeiter bezahlen für ihre Nähe jedoch einen hohen Preis. Viele werden bei israelischen Angriffen getötet oder verletzt. Der Chefkorrespondent in Gaza, Wael Al Dahdouh, verlor etliche Mitglieder seiner engen Familie und wurde durch seinen Einsatz und seinen persönlichen Verlust in weiten Teilen der arabischen Welt zu einer Ikone. Ohne Leute wie ihn gäbe es vermutlich kaum Bilder aus dem Krieg.
Nach außen hin gibt sich Al Jazeera betont professionell. So lässt der Sender zwar etliche Hamas-Vertreter zu Wort kommen, er sendet aber auch die Äußerungen israelischer Politiker nahezu unkommentiert. Man wolle eben einfach nur zeigen, was ist, sagte ein hoher verantwortlicher Mitarbeiter des Senders während eines Hintergrundgesprächs zu Beginn des Krieges. Gegen den Vorwurf der Parteilichkeit wehrt er sich.
Tatsächlich vermeidet Al Jazeera eine offene Parteinahme. Doch schon bei der Wortwahl der Moderatoren zeigt sich schnell, welche Weltsicht der Sender pflegt. So wird Israels Militär konsequent „Besatzungsarmee“ genannt. Die Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad hingegen bilden den „Widerstand“. Und tote Palästinenser werden als „Märtyrer“ bezeichnet.
Keine Angehörigen
Letztgenannte Wortwahl ist im Nahen Osten zwar auch jenseits des Gazakriegs weit verbreitet. Doch wer ein paar Stunden Al Jazeera schaut, bekommt ein ziemlich eindeutiges Bild präsentiert. Da sind einerseits die Palästinenser in Gaza, deren Leiden sehr viel Platz eingeräumt wird, andererseits Israeli, die meist nur als Soldaten oder Politiker auftreten. Sie fahren entweder im Panzer durch Ruinen oder kündigen weitere Militäroperationen an.
Zwar zeigt der Sender auch Bilder von den Demonstrationen gegen die Netanjahu-Regierung und widmet sich ausführlich den Problemen, mit denen Israels Wirtschaft infolge des Krieges zu kämpfen hat. Die von der Hamas in Gaza gehaltenen Geiseln oder deren Angehörige kommen jedoch kaum vor – genauso wenig wie Hamas-kritische Palästinenser.
Sowieso scheint der Sender zum Hamas-Terror des 7. Oktober ein seltsames Verhältnis zu pflegen. Die Gräueltaten der Hamas werden auf Al Jazeera zwar nicht geleugnet, man bekommt aber den Eindruck, dass sie eigentlich gar nicht richtig stattgefunden haben. Dazu passt auch ein Dokumentarfilm, den die vielgerühmte Investigativabteilung des englischsprachigen Schwesterkanals unlängst produziert hat.
Simples Bild
Der Film, der den Anspruch erhebt, über all das zu informieren, was am 7. Oktober vorgefallen ist, verwendet einen Großteil seiner Sendeminuten darauf, bloß darzulegen, was nicht passiert ist: So wird das längst entkräftete Gerücht aus den ersten Kriegstagen, wonach die Hamas in einem Kibbuz angeblich 40 Babys enthauptet hat, ein weiteres Mal in aller Länge widerlegt.
Zudem wird darüber spekuliert, dass Israel für viele der zivilen Toten möglicherweise selber verantwortlich sei. Wie die Hamas-Kämpfer gewütet haben, kommt hingegen nur am Rande vor. Am Ende ergibt sich daraus ein simples Bild: Ja, der 7. Oktober war schlimm – aber vieles davon ist doch bloß Propaganda, und sowieso verblassen die Untaten der Hamas im Vergleich zum Leid der Palästinenser in Gaza.
Immer wieder wird Al Jazeera deshalb Einseitigkeit und Manipulation vorgeworfen. Vertreter des Senders bestreiten das – und verweisen darauf, dass es nun mal ihre journalistische Pflicht sei, das Augenmerk in erster Linie auf die Lage der Zivilisten in Gaza zu legen, wo Zehntausende gestorben seien und eine humanitäre Katastrophe herrsche.
Im Kreuzfeuer
Trotzdem erweckt die Berichterstattung den Eindruck, als stürze sich der Sender regelrecht auf Gaza und lasse dabei aus, was nicht ins Bild passt. Das ist keine Überraschung, schließlich dürften die Verantwortlichen in Doha wissen, dass der blutige Krieg im Küstenstreifen in der arabischen Welt tiefe Emotionen weckt und einhellig auf Empörung stößt – ganz im Gegensatz zu anderen Themen.
Vor dem Krieg hatte Al Jazeera nämlich mitunter einen schweren Stand. So war der 1996 von der katarischen Regierung gegründete und finanzierte Sender immer wieder ins Kreuzfeuer der innerarabischen Politik geraten. Während des Arabischen Frühlings etwa wurde ihm vorgeworfen – analog zur katarischen Politik – den Muslimbrüdern zu viel Platz einzuräumen.
Mehrere prominente Reporter verließen den Sender deshalb aus Protest. Später wurde Al Jazeera dann zur Zielscheibe der Saudi und der Emirate, die ihn als angeblichen katarischen Propagandakanal aus ihren Ländern verbannten und versuchten, ihm durch eigene Satellitenkanäle das Wasser abzugraben. An die Popularität und die Reichweite von Al Jazeera reichen diese aber bis heute nicht heran.
Denn die Katarer revolutionierten mit ihrem Satellitenkanal das Fernsehen in der arabischen Welt. Wo zuvor linientreue Moderatoren ihr Publikum mit öder Staatspropaganda langweilten, fanden mit einem Mal Debatten statt, und selbst israelische Vertreter kamen zu Wort. Davon zehrt Al Jazeera bis heute – selbst wenn der Sender mit seiner Berichterstattung auch manche Araber vor den Kopf stößt.
So ärgern sich viele Liberale über den ihrer Meinung nach zu freundlichen Umgang mit Islamisten. Und eine irakische Journalistin, die früher als freie Mitarbeiterin für Al Jazeera tätig war, begründet die Beendigung ihres Engagements damit, dass der Sender die als brutale Gangs geltenden Milizen in ihrem Land seit Beginn des Gazakrieges als „Widerstandskämpfer“ bezeichne – nur weil sie gegen Amerika kämpften.
Dem Erfolg von Al Jazeera tut das keinen Abbruch. Inzwischen gewinnt sein englischsprachiger Ableger auch unter jungen, propalästinensischen Aktivisten in Amerika an Zuspruch. Dass er nun in Israel verboten ist, wird ihm kaum schaden – zumal das Programm mithilfe von VPN im Internet immer noch empfangbar ist. Das Einzige, was den Sender tatsächlich in eine Krise stürzen könnte, wäre ein Ende des Krieges in Gaza. Denn worüber würde er dann berichten?
Dieser Artikel erschien am 15.5. 2024 in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Wir danken für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks.