Einheit oder Krieg

Die Protestbewegung gegen die ultrarechte Regierung unter Benjamin Netanjahu hat sich die Fahne angeeignet. Jede Demonstration gleicht einem Flaggenmeer. Aber auch die Regierung tritt vor derselben Fahne auf. FOTO: ©HANAY/CC BY-SA 3.0

Kommentar von Ronald S. Lauder

Üblicherweise mischen wir Juden in der Diaspora uns nicht in die israelische Politik ein. Wir fühlen uns Israel verbunden und verpflichtet. Aber wir halten uns zurück, denn es sind nicht unsere Söhne und Töchter, die ihr Leben für das Überleben und Wohlergehen der jüdischen Nation riskieren.

Aber jetzt steht Israels Zukunft auf dem Spiel. Der einzige jüdische Staat der Welt sieht sich einer unmittelbaren und existenziellen Gefahr gegenüber. Eine Kombination nie dagewesener äußerer und innerer Bedrohungen hat das Land an den Rand des Abgrunds gebracht. Die äußere Bedrohung hat drei Komponenten: Innerhalb des letzten Jahres hat der Iran sich zu einer Beinahe-Nuklearmacht entwickelt. Bald kann er die Weltordnung bedrohen – und Israel. Die Hisbollah wächst zur gefährlichsten Terrororganisation der Welt heran. Ihre Raketen können Haifa, Tel Aviv und Jerusalem erreichen. Im Westjordanland wird die Palästinensische Autonomieverwaltung von der Hamas und anderen radikalen Kräften unterminiert. Das Gebiet versinkt in Chaos und Gewalt. Natürlich ist Israel stark. Wenn notwendig, wird es kämpfen – und gewinnen. Dennoch schafft die Kombination dieser drei Bedrohungen eine Realität in der Region. Die Gefahr eines Mehrfrontenkrieges ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Aber auch im Inneren sieht Israel sich einer dreifachen Bedrohung gegenüber. Die von Justizminister Jariv Levin initiierte Justizreform hält die politische Rechte für unverzichtbar, die Linke für eine Bedrohung der israelischen liberalen Demokratie. Die Abhängigkeit der Regierungskoalition von ultraorthodoxen und ultranationalistischen Parteien hindert Premierminister Benjamin Netanjahu daran, seine moderat konservativen Politikvorstellungen umzusetzen. Gleichzeitig entfremdet die innere Spaltung die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Israel voneinander. Diese drei Dimensionen der inneren Bedrohungen öffnen alte Wunden und säen Hass. Sie bringen die israelische Gesellschaft in den Strudel eines internen Konflikts, den es in diesem Ausmaß seit dem 15. Mai 1948 nicht mehr gegeben hat.

Israel ist eine außergewöhnliche, großartige Nation. Die Gründung des jüdischen Staates nach dem Holocaust und sein spektakulärer Erfolg in den vergangenen 75 Jahren machen das Land zu einem wirklichen, von Menschen gemachten, Wunder. Aber nun ist Israel in Gefahr. Die Entwicklungen des laufenden Jahres unterspülen das gesellschaftliche Fundament des Staates und gefährden die nationale Sicherheit. Während Extremisten auf ihre anti-liberalen Gesetzesinitiativen bestehen, verweigern Tausende von Reservisten, darunter Hunderte von Piloten, den Dienst in der Armee. Vor dem Hintergrund dieser schwerwiegenden Entwicklung warnt der ehemalige Generalstabschef Gadi Eisenkot, dass Israel heute verwundbarer sei als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seit dem Überraschungsangriff seiner Nachbarn an Jom Kippur 1973.

Das ist der Grund, weshalb ich nicht länger schweigen kann. Ich sehe, wie Israel sich selbst zerfleischt, während seine Feinde an Stärke gewinnen. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, laut und deutlich meine Warnung auszusprechen. „Ein in sich selbst uneiniges Haus kann nicht bestehen“, erklärte Abraham Lincoln vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Auch Israel kann nicht bestehen, wenn es uneins ist. Wir Juden müssen aus unserer tragischen Geschichte lernen. Wir sind verpflichtet, nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, als interne Streitigkeiten zur Zerstörung des ersten und zweiten Tempels geführt haben. Wir Juden in der Diaspora und in Israel haben gemeinsam die Verpflichtung, die Zukunft des dritten Tempels zu bewahren.

Es gibt nur einen Weg, die vielschichtige Krise zu überwinden: nationale Geschlossenheit. So wie die Israelis am Vorabend des Kriegs von 1967 ihre Streitigkeiten hintangestellt haben, so müssen sie es auch heute tun. Und es sind drei Männer, die diese Einigkeit erreichen können: Benjamin Netanjahu, Jair Lapid und Benni Gantz. Die Verantwortung der Geschichte ruht auf den Schultern dieser drei Führungspersonen. Deshalb müssen sie sich sofort zusammensetzen und offen über die alarmierende Situation des Landes sprechen. Sie müssen persönliche Ambitionen und politische Unterschiede überwinden, um eine starke und stabile Regierung in Zeiten des Notstands zu bilden.

Im Laufe seiner Geschichte hat Israel Wunder vollbracht. Es hat die Wüste zum Blühen gebracht und einen sicheren Hafen für Millionen jüdischer Überlebender und Flüchtlinge geschaffen. Es hat die meisten seiner Feinde besiegt und Frieden mit sechs arabischen Staaten geschlossen. Aber das Problem unserer Zeit und unserer Generation ist die innere Zerrissenheit. Der einzige Weg ihr zu begegnen, ist die Erneuerung der Allianz der großen zionistischen Kräfte. Wir dürfen nicht warten, bis wieder Gewalt ausbricht. Es reicht nicht, nur dann zusammenzustehen, wenn wir angegriffen werden. Wir müssen verstehen, dass nur eine Koalition der gemäßigten Kräfte Israel aus dem Würgegriff der Eiferer und Fanatiker befreien kann. Nur nationale Einheit kann die Nation vorbereiten für eine außergewöhnliche Belastungsprobe von außen, die ihr demnächst bevorstehen kann.

An dieser kritischen Weggabelung richten sich die Augen der Juden aus aller Welt auf den jüdischen Staat. Wir beten für sein Überleben und bitten ihn inständig, die Wunden zu heilen, die ihn im Inneren zerreißen. Deshalb wende ich mich als Vorsitzender des Jüdischen Weltkongresses an Netanjahu, Lapid und Gantz. Sie müssen sich ihrer historischen Verantwortung stellen. Als Jude, der die drei gut kennt und der Israel liebt, sage ich ihnen, es gibt keine andere Chance. Nicht nur die jüdische Diaspora, sondern auch die überwiegende Mehrheit der Israelis – sowie 3000 Jahre jüdischer Geschichte – fordern den jüdischen Staat zur Einheit auf. Die Bedrohung ist da: Einheit oder Krieg.

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