Eine wundersame Wiedergeburt

Lewis Carroll lässt grüßen: die animierten Avatare in Form eines anthropomorphen Kaninchens in „Rabbit Heart“. ©Sharon Bloom

von Simon Mraz

Wie wirkt sich der rasante technische Fortschritt auf unser Selbstbildnis aus? Welche neuen Möglichkeiten einer Identität bieten sich uns? Sharon Bloom gehört zu einer Generation von Künstlerinnen, die sich in ihren Arbeiten der Beziehung zwischen dem Menschen und der digitalen Technologie widmet. Bloom arbeitet vor allem mit interaktiven Installationen, bei denen komplexe Algorithmen eine entscheidende Rolle spielen: Erst die spontane Reaktion des menschlichen Betrachters oder Teilnehmers macht das Kunstwerk zu einem solchen.

Mit Zahlen beschäftigt sich Bloom schon von Kindesbeinen an. Geboren als Natalia Alfutova wuchs sie in einer Familie von Mathematikern – Eltern, Großvater, Onkel und Tante – auf und verbrachte bereits als Schülerin ihre Freizeit mit dem Familiensport: dem Lösen mathematischer Aufgaben. Wenig überraschend studierte sie Mechanik und Mathematik an der Staatlichen Universität Moskau. Die Kunst entdeckte sie, wie Bloom erzählt, anlässlich eines ungeplanten Besuchs im Institut für Kinematografie, bei dem ihr die Augen für die Kunst geöffnet wurden. Und so schrieb sich Alfutova nach abgeschlossenem Mathematikstudium bei Drehbuchkursen ein und begann ein Studium an der renommierten Moskauer Rodtschenko Schule für Fotographie und Multimedia. Ihre in der Absolventenausstellung gezeigte Arbeit Rabbit Heart (2018) wurde als Einzelposition ausgezeichnet – die ersten künstlerischen Erfolge ließen nicht lange auf sich warten: Kairo, Rotterdam und Wien waren die ersten Stationen, zahlreiche nationale und internationale Ausstellungen folgten.

Hasenherzen

In Rabbit Heart wurde das Publikum eingeladen, Porträtfotos anfertigen zu lassen und der Künstlerin den Zugang zum persönlichen öffentlichen Social-Media-Profil zu gewähren. Kurz darauf konnte man sich als Hase mit menschlichem Gesicht auf einer virtuellen Blumenwiese wiederfinden, auf der die Avatare begannen, auf Basis der errechneten Persönlichkeitsmerkmale miteinander zu interagieren: Manche plauderten, manche küssten sich, andere begannen zu streiten. So konnten die echten Menschen plötzlich in Echtzeit beobachten, wie sie mit den anderen in Beziehung traten. Das 2018 in einem Moskauer Museum als Diplomarbeit präsentierte Werk wurde ein knappes Jahr später im Rahmen eines großen Kunden- und Kunstevents mit hunderten Gästen und einem riesigen Panoramabildschirm erneut präsentiert.

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine beschloss die Künstlerin ihr Leben radikal neu zu erfinden. Wie viele, die mit der russischen Politik nicht einverstanden waren, machte sie sich auf, verließ die Heimat und beschloss in Israel einen Neustart. Allerdings in einer dem Wesen der Künstlerin eigenen staunenswerten Konsequenz: Natalia Alfutova wurde zu Sharon Bloom: „Israel und die Namensänderung haben mein gesamtes Leben radikal verändert, und zwar in fantastischer Weise. In meinem früheren Leben hätte ich es mir nicht vorstellen können, dass es auch nur möglich sein könnte, in ein Land zu kommen, das sich wirklich um einen annimmt. Man gab mir Geld, um Essen zu kaufen und eine Wohnung zu mieten. Einfache Menschen auf der Straße sind hier bereit zu helfen. Israel ist ein überraschend herzlicher Ort. Ich bin immer noch in einem Schockzustand, wie sehr sich mein Leben und meine Kunst verändert haben.“

Doch die Veränderung geht weiter. Mit ihrem langjährigen Projektpartner für künstlerische Unterfangen, Yaroslav Kravtsov, gründete Bloom das Unternehmen Space Trace. Bereits vor der Pandemie experimentierten die beiden in ihren Kunstwerken mit dem Metaversum, bei dem ein digitaler Raum durch das Zusammenwirken virtueller und physischer Realität neu entsteht. Als sich während mehrerer Lockdowns die Kommunikation plötzlich verstärkt in den virtuellen Raum verlagerte, begann Bloom verschiedenen Unternehmen ein entsprechendes Service anzubieten: den Aufbau virtueller 3D-Welten, in denen die Firmen Meetings abhalten, die Menschen einander treffen oder sogar Partys feiern konnten. Daneben entwickelt Space Trace auch Spiele für die interaktive Online-Spieleplattform Roblox.

„Erst jetzt beginne ich, mein neues Selbst zu erkennen“, so Sharon Bloom, „und meine neue Sprache in der Kunst zu suchen. Zumindest hat sich der Blickwinkel meiner Erforschung der Menschheit ein wenig verschoben. Während ich mich früher, als ich noch in Russland lebte, für Roboter interessierte, versuche ich nun, den Menschen besser zu verstehen. Diese neue Perspektive ist das Ergebnis einer Suche – nach meinen Wurzeln in Israel.“

Sharon Bloom arbeitet mit interaktiven Installationen, bei denen komplexe Algorithmen eine entscheidende Rolle spielen. ©Sharon Bloom
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