Deutschland war in der Ära von Angela Merkel der engste Freund Israels. Doch die dunklen Geister der Vergangenheit sind präsent, mit einer immer weiter ins rechtsnationale Lager rückenden AfD und offenem Antisemitismus von rechts.
Von Eric Frey
The Pity of It All lautet der Titel eines Buches des israelischen Historikers Amos Elon über die Blütezeit der Juden in Deutschland. Sie begann im Jahr 1743, als der junge Moses Mendelssohn erstmals das Stadttor von Berlin durchschritt, und endete 1933 mit der Vertreibung, Flucht und Vernichtung des deutschen Judentums durch das NS-Regime. Das Buch, auf Deutsch 2003 unter dem Titel In einer anderen Zeit – die direkte Übersetzung müsste „Wie schade ist das alles“ heißen – erschienen, ist durchtränkt von Wehmut. Denn es gab kein anderes Land in Europa, in dem Juden sich so sehr als Teil der Gesellschaft gefühlt und sich mit der Nation so stark identifiziert haben wie in diesen 190 Jahren in Deutschland. Die Überzeugung, sie seien auch mit einem jüdischen Religionsbekenntnis oder jüdischer Abstammung genauso deutsch wie ihre christlichen Nachbarn, hielt unzählige Juden sogar nach 1933 noch davon ab, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Aber auch der Antisemitismus und die Verfolgung durch die Nazis kam nicht aus dem Nichts, sondern hatte tiefe Wurzeln in der deutschen Geschichte, wie etwa Daniel Jonah Goldhagen in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker überzeugend dargestellt hat – eine Geschichte, die mindestens 1700 Jahre alt ist, mit der erstmaligen Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Köln im Jahr 321. Das Spannungsfeld in einem Land und einer Kultur, die für eine der großen Blütezeiten der jüdischen Geschichte ebenso wie für die schrecklichste Verfolgung und Vernichtung verantwortlich zeichnen, wirkt bis heute nach, da die Geschichte der Juden in Deutschland wieder eine völlig neue Wendung genommen hat. Jüdisches Leben ist im 21. Jahrhundert nach Deutschland mit überraschend großer Kraft zurückgekehrt, und die Beziehung zwischen Juden und Deutschen ist so kompliziert wie eh und je.
Jüdisches Leben kehrt zurück
Deutschland war in der Ära von Angela Merkel, die in diesem Herbst zu Ende geht, der engste Freund des Staates Israel und hat den Kampf gegen Antisemitismus wie kein anderes Land zu einem zentralen nationalen Projekt gemacht. Aber auch die dunklen Geister der Vergangenheit sind präsent, mit einer immer weiter ins rechtsnationale Lager rückenden AfD und offenem Antisemitismus von rechts, dessen erschreckendstes Lebenszeichen der Anschlag auf die Synagoge in Halle vor zwei Jahren war.
Geschätzte 250.000 Juden leben heute in Deutschland, von denen etwas weniger als 100.000 zu einer der zahlreichen jüdischen Gemeinden gehören. Die überwiegende Mehrheit ist nach 1990 aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert, als Folge einer von der deutschen Bundesregierung bewusst betriebenen Einwanderungspolitik, die auf eine Wiederbelebung der jüdischen Kultur in Deutschland abzielte. Vor dem Fall der Berliner Mauer war die Zahl der Juden in Deutschland auf unter 20.000 gefallen. Im vergangenen Jahrzehnt verzeichnete vor allem Berlin einen wachsenden Zustrom von jungen Israelis, die in der deutschen Metropole eine zumindest temporäre Heimat suchten, wo sie weniger politischem, finanziellem und politischem Stress ausgesetzt sind als in Israel. Die israelische Community in Berlin ist auf bis zu 30.000 Personen angewachsen und trägt viel zum kulturellen und auch kulinarischen Leben in der deutschen Hauptstadt bei.
Wiedergutmachung
Auch in Israel selbst nimmt die Sympathie für das moderne Deutschland zu. Dass das Rathaus in Tel Aviv im Juli in den Farben der deutschen Flagge beleuchtet wurde, um Solidarität mit den Opfern des Hochwassers zu zeigen, wäre vor einigen Jahren wohl noch nicht vorstellbar gewesen. Für immer mehr Israelis steht Deutschland nicht mehr nur für die Schoah.
Die deutsche Politik – und da besteht ein Konsens zwischen fast allen Parteien – hat den Kampf gegen Antisemitismus zu einer zentralen Mission erklärt, als Sühne für die NS-Verbrechen am jüdischen Volk. Was unter dem ersten Nachkriegskanzler Konrad Adenauer in den 1950er Jahren mit Wiedergutmachung und finanzieller Unterstützung begonnen hat, ist unter Merkel weiter gewachsen. Die Verantwortung für die Sicherheit Israels sei „Teil der Staatsräson meines Landes“, sagte sie in einer Rede vor der Knesset in Jerusalem 2008, und die Kanzlerin blieb diesem Prinzip bis zum Schluss treu. Siebenmal hat sie Israel besucht, während etwa ihr einstiger Mentor Helmut Kohl in seinen 16 Jahren nur zweimal nach Israel fuhr. Aus Berlin hört man nie kritische Töne bezüglich Israels Politik im Westjordanland oder im Gazastreifen. Wenn andere europäische Regierungen sich besorgt über israelische Militärschläge gegen Gaza zeigen, wird in Berlin stets Israels Recht auf Selbstverteidigung betont. Im Eifer, alle Formen des Antisemitismus zu bekämpfen, werden auch manchmal legitime Israelkritiker zum Schweigen gebracht und der palästinensischen Community kaum Möglichkeiten geboten, ihre Anliegen vorzubringen. Vor allem deutsche Juden der jüngeren Generation empfinden den Philosemitismus, den sie hautnah erleben, manchmal irritierend oder sogar verstörend.
An dieser Haltung wird sich auch nach Ende der Merkel-Ära nichts ändern, vor allem wenn der CDU-Parteichef Armin Laschet der nächste Bundeskanzler wird. Am rechten Rand der CDU sind zwar gelegentlich Töne zu hören, die mit antisemitischen Codes behaftet sind, so etwa vom ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, der behauptet, eine kleine Gruppe von „Wirtschaftsglobalisten“ plane die Errichtung einer neuen Weltordnung. Bei den Grünen wiederum sind Bestrebungen zu beobachten, die Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust durch eine Hinwendung zur mörderischen Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreiches in Südwestafrika etwas aufzuweichen. Aber all das betrifft nur Randgruppen – wäre da nicht die AfD.
Unangenehmer Boden
Die „Alternative für Deutschland“ ist in den vergangenen Jahren immer weiter nach rechts gedriftet. Bei jeder innerparteilichen Auseinandersetzung gehen die gemäßigteren Vertreter als Verlierer vom Feld, was die Partei immer mehr an völkische Ideologie mit NS-Apologetik heranrücken lässt. Auch für die AfD, selbst für seinen rechtsextremen „Flügel“, ist Antisemitismus nicht das wichtigste politische Motiv. Aber mit ihrer Ablehnung jeder Sühne für die NS-Verbrechen und ihrem Hang zu Verschwörungstheorien werden die Juden rasch zum Feindbild und zum Sündenbock. Und die rechtsradikale Szene ist vor allem in Ostdeutschland aktiver und gewalttätiger als in den meisten anderen europäischen Staaten. Verbunden mit dem von vielen radikalen Muslimen gepflegten Antisemitismus machen diese Tendenzen Deutschland zu einem weitaus unangenehmeren Boden für seine jüdischen Bürgerinnen und Bürger, als es die offizielle Politik gerne darstellt.
Die Freundschaft mit Israel und die Renaissance des jüdischen Lebens sind eine der großen Errungenschaften des modernen deutschen Staates. Aber von Normalität ist die Beziehung zwischen Deutschen und Juden auch 76 Jahre nach Ende des nationalsozialistischen Terrors weit entfernt. Nichts, was in der deutschen Politik in Bezug auf Israel und Juden gesagt oder in Medien geschrieben wird, kann außerhalb des Kontexts der Schoah bewertet werden. Bei allem Licht, das diese Beziehung heute durchflutet, dominieren immer noch die Schatten der Vergangenheit.