Eine Institution: Die Galerie St. Etienne in New York

Ein Besuch der Galerie St. Etienne in New York lohnt sich allemal, nicht nur wegen der phantastischen Ausstellungen, die dort mitunter gezeigt werden, sondern vor allem auch wegen des gewaltigen Stücks österreichischer Geschichte, das mit ihr (noch immer) verbunden ist.
VON PETER WEINBERGER

Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis, circa 1905

 

Kunstsüchtige Besucher New Yorks sollte nicht vergessen, sich sofort zu erkundigen, ob eine Ausstellung in der Galerie St. Etienne läuft, da eine solche meist um einiges mehr bietet als eine Spezialausstellung im MoMA, noch dazu ohne dem im MoMA üblichen Gedränge. Die im Winter 2015/16 gezeigte exquisite Retrospektive von Bildern Paula Modersohn-Beckers (1875–1907) gibt einen hervorragenden Einblick in die Welt einer der ersten deutschen Künstlerinnen der Moderne, von Künstlerinnen, die seinerzeit als „Malweiber“ abgetan wurden.

Die Galerie St. Etienne ist im Grunde genommen keine gewöhnliche Galerie, sondern eine der klassischen Moderne gewidmete „Institution“. Über sie und ihren Gründer Otto Kallir sind bereits zahlreiche Artikel erschienen. Otto Nirenstein, wie sein ursprünglicher Name lautete, gründete 1923 in Wien die „Neue Galerie“ – heute Galerie nächst St. Stephan, in der er erstmals eine große Egon-Schiele-Ausstellung veranstaltete. In der Folge verlegte er Schriften über Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka. 1931 rettete er Bilder von Richard Gerstl vor dem Verfall, Bilder, die zum Teil heute Prunkstücke des Leopold Museums in Wien oder der Neuen Galerie in New York sind. 1938 in die Emigration getrieben, eröffnete er zunächst die Galerie St. Etienne in Paris, nach seiner Flucht in die USA, eine Galerie des gleichen Namens in New York. Da Werke von Schiele, Klimt, Derain, Signac oder Beckmann als entartete Kunst galten und daher für die Nazis als wertlos erschienen, konnte er seine umfangreiche Sammlung, sozusagen als belangloses Zeug, im Wesentlichen unbehindert aus Wien mitnehmen.

Schieles Zeichnungen um zwanzig Dollar

Bereits 1941 organisierte er in seiner Galerie die allererste Egon-Schiele- Verkaufsausstellung in den USA. Da Schiele damals dort vollkommen unbekannt und der Kunstmarkt fast ausschließlich auf französische Kunst ausgerichtet war, bot er dessen Zeichnungen zunächst um zwanzig US Dollar und Aquarelle um sechzig an. Lediglich ein einziges Werk, ein kleines Ölbild, konnte er bei dieser Gelegenheit um 250 US Dollar an einen Emigranten verkaufen, der seine Anschaffung übrigens in dreizehn US Dollar Raten abstotterte.

Im Jahr 1948 gelang ihm eine Reihe von Bildern, die in Paris seit 1939 aufbewahrt waren, nach New York zu überführen. Um den Verkauf von Schiele zu stimulieren, annoncierte er auch in der (deutschsprachigen) Emigrantenzeitung Der Aufbau. In Folge seiner umfassenden Kenntnisse der Werke von Gustav Klimt und Egon Schiele half er mit mäßigem Erfolg anderen aus Österreich Geflüchteten, gestohlene Kunstwerke zurückzufordern. Er selbst war in seinem Kunsthandel peinlich genau darauf bedacht, stets Werke mit gesicherten Eigentümerverhältnissen zu vermitteln. In diesem Sinne gilt er als einer der Pioniere der Provenienzforschung.

Ein alter Traum Kallirs

1965 wurde ein alter Traum Kallirs wahr, nämlich eine Klimt/Schiele- Sonderausstellung im Guggenheim Museum zu veranstalten. Ab diesem Zeitpunkt gewann in den USA österreichische Fin-de-siècle-Kunst fast exponentiell an Popularität, mit dem Resultat, dass Poster von Klimts „Der Kuss“ zu den populärsten Dekorationen in amerikanischen Haushalten wurden. In seiner letzten Schiele-Retrospektive in der Galerie St. Etienne, 1970, erreichten Schiele-Aquarelle bereits Preise von 18.000 US Dollar und mehr. Ronald Lauders Neue Galerie in New York ist übrigens benannt nach Nirensteins erster Galerie in Wien.

Otto Kallir war nicht nur ein äußerst erfolgreicher Galerist, sondern auch ein bedeutender Kunsthistoriker. Sein 1970 sowohl in Deutsch als auch in Englisch im Zsolnay Verlag erschienenes Buch Egon Schiele. Das druckgraphische Werk zählt nach wie vor zu einem der Standardwerke in der stets wachsenden Literatur über Egon Schiele. Er verstarb 1978 in New York im Alter von 84 Jahren.

Seither führen Hildegard Bachert und seine Enkelin, Jane Kallir, die Galerie. Jane Kallir „erbte“ die Interessen ihres Großvaters: Für sie ist Egon Schiele, den sie übrigens in einem Buch Egon Schiele: The Complete Works (1998) umfassend würdigte, immer noch der Inbegriff jener österreichischer Fin-de-siècle-Kunst, die ihren Großvater ein Leben lang fasziniert hatte. Aber auch Otto Kallirs zweites Interessensgebiet, die Arbeiten von Grandma Moses, deren Werke Jane Kallir als Kuratorin in zahlreichen Museen dem Publikum eröffnete, gehört zu ihrem Erbe. Das Wien der Jahrhundertwende blieb allerdings im Zentrum ihrer Interessen. Und sie meldet sich stets zu Wort, sobald schwierige Provenienzfragen betreffend Klimt oder Schiele virulent werden, zum Beispiel 2015 im Standard mit einem Beitrag zur Diskussion um den Beethovenfries.

Die heute 94-jährige Hildegard Bachert, die noch immer täglich in der Galerie zu finden ist, betreut diese seit 75 Jahren (!): 1940 stellte sie Otto Kallir als Sekretärin ein, später avancierte sie zu seiner Partnerin.

Während eine Mitarbeiterin der Galerie extra für uns die sich noch im Besitz der Galerie befindlichen Schiele aufstellte, hatten meine Frau und ich vor zwei Jahren die Gelegenheit, mit Hildegard Bachert ein wenig über die Emigrantenszene in New York in den 1940er-Jahren zu sprechen. Vor uns sahen wir Schiele-Ölgemälde im Wert von zig Millionen Dollar an die Wand der Galerie gelehnt. Frau Bachert sprach von emigrierten österreichischen Malern, wie Josef Floch, den sie gekannt, und solchen wie Viktor Tischler, von denen sie nur gehört hatte. Und sie erzählte ein bisschen über sich selbst. Sie lebt, wie sie der New York Times anlässlich ihres 75. Dienstjubiläums anvertraute, noch immer in einer Wohnung in West End mit den Möbeln, die ihre Eltern in den 1930er- Jahren mit nach New York gebracht hatten. Vielleicht ist Hildegard Bachert die eigentliche Erbin nach Otto Kallir, denn seit seinem Tod benutzt sie seinen alten „Roll top“-Schreibtisch in der Galerie.

 

The Galerie St. Etienne,
24 West 57th Street, New York

 

Jane Kallir, Egon Schiele: The Complete Works, 1998,
Umschlag; zur Verfügung gestellt vom Auktionshaus im Palais Kinsky

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