Zwei Freundinnen betrachten Israel aus ihrer jeweiligen Perspektive. Herausgekommen ist ein spannender Diskurs, der in einem Buch mündete.
von Margarita Godina
Susanne Glass, deutsche Kriegsreporterin, langjährige Leiterin des ARD-Studios Tel Aviv und heute Redaktionsleiterin beim Bayerischen Rundfunk, und Jenny Havemann, deutschsprachige Politikanalystin und Unternehmerin, Gründerin von GIIN – German-Israeli Innovation Network, die mit ihrer Familie bei Tel Aviv lebt und sich öffentlich gegen Antisemitismus engagiert, erzählen in ihrem gemeinsamen Buch „Unser Israel gibt es nicht mehr: Zwei Standpunkte – eine Freundschaft“ von einer Zäsur, die ihr Leben unwiderruflich verändert hat. Am 7. Oktober 2023 verübte die Hamas einen verheerenden Terrorangriff auf Israel. Mehr als 1200 Menschen wurden getötet, vor allem Zivilisten. Das Buch ist aus dieser unmittelbaren Erfahrung heraus entstanden – aus zwei Perspektiven, die sich ergänzen: die einer Journalistin, die den Konflikt seit Jahren berichtet, und die einer Politikanalystin, die ihn im eigenen Zuhause mit ihrer Familie durchlebt.
Gleich zu Beginn verschränken sich die erschütterndsten Momente mit alltäglichen, scheinbar nebensächlichen Fragen: „Sollen wir mit den Kindern noch auf den Spielplatz?“, fragte ich Eliyah. „Besser nicht. Falls die Sirenen wieder losgehen, schaffen wir es vielleicht nicht bis zum Bunker.“ Das Entsetzliche des Geschehenen beeinflusst selbst die einfachsten Entscheidungen des Tages. Dabei zeigt sich eine Besonderheit des heutigen medialen Raums: Er ermöglicht es Autorinnen, nahezu in Echtzeit zu reagieren und Ereignisse zu beschreiben, während sie noch andauern. So entsteht eine Literaturform, in der faktisch Zeugen für Zeugen schreiben. Beim Lesen gibt es keinen sicheren zeitlichen Abstand, der einen trösten könnte, keine beruhigende Gewissheit, dass alles schon vorbei ist.
Besonders eindrücklich ist, wie die Autorinnen historische Rückblenden setzen: kurze Passagen über Theodor Herzl, über die Gründung Israels, über frühere Kämpfe – nicht, um eine vollständige Chronologie zu schaffen, sondern um heutige Ereignisse in Beziehung zu setzen zu anderen Momenten der Geschichte. Die emotionale Differenz zwischen diesen historischen Bildern und den aktuellen Szenen ist enorm. Und wie bei vielen Büchern dieser Art weiß man schon beim Aufschlagen, dass es am Ende keine Auflösung geben wird – keine Antworten, keine Entlastung, kaum Hoffnung.
Die Autorinnen leisten dabei eine beeindruckende journalistische Arbeit: Sie führen Gespräche mit Menschen, die sich im Epizentrum der Ereignisse befinden und geben auch Stimmen Raum, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. So schildert Susanne Glass ihre Begegnung mit Mahmoud Abu Khater, einem palästinensischen Neurochirurgen mit deutscher Staatsbürgerschaft, der nach zwanzig Jahren in Deutschland in den Gazastreifen zurückgekehrt ist, um zu helfen. Abu Khater, der die Hamas offen kritisiert, obwohl dies für ihn riskant ist, bezeichnet sich als SPD-Mitglied und betont: „Mit der Hamas und auch der Fatah habe ich nichts zu tun.“ Er beschreibt die katastrophale medizinische Lage und appelliert, das Leid der Zivilbevölkerung zu sehen – Menschen, die sowohl unter der Kontrolle einer Terrororganisation als auch unter einer fast vollständigen Abriegelung leben.
Wenn man sich für einen Moment von der historischen Faktentreue des Textes löst, klingt er stellenweise wie eine Dystopie: „…jede neue Wohnung in Israel hat einen solchen Raum. Die Wände sind extra verstärkt. Die Fenster können bombensicher geschlossen werden. Es gibt ein eigenes Belüftungssystem, und bei einem Volltreffer soll im Idealfall der Schutzraumtrakt eines Wohnhauses unversehrt stehen bleiben.“ Manche Beschreibungen könnten ebenso aus einer uralten Quelle stammen – wie aus dem Tanach oder aus längst vergangenen Zeiten: „Mit all diesen Feiertagen beginnt spirituell das neue Jahr. Man hat über das alte Jahr reflektiert und sich möglicherweise für das neue Jahr Vorsätze gemacht. Und am letzten Feiertag dieses Zyklus, an Simchat Tora, am 7. Oktober 2023, bricht dieser Terror über Israel herein.“
Wie treffend im Buch bemerkt wird: „‚Der Kampf um Sderot‘ – so wird der Angriff der Hamas am 7. Oktober auf die Stadt im Internet betitelt. Das klingt groß und historisch. So etwa wie ‚Der Kampf um Rom‘.“ Eine Erzählung, die weder Trost noch Abschluss sucht, sondern die Wirklichkeit so belässt, wie sie ist.
Susanne Glass, Jenny Havemann:
Unser Israel gibt es nicht mehr: Zwei Standpunkte – eine Freundschaft
Langen-Müller, Deutschland 2025
288 S. EUR 24,–
