Vor Beginn des russischen Angriffskriegs lebten nach Angaben des European Jewish Congress bis zu 400.000 Jüdinnen und Juden in der Ukraine. Mehr als 22.000 sind geflohen, wovon über tausend Geflüchtete Zuflucht in der jüdischen Gemeinde in Wien gefunden haben.
Von Savanka Schwarz
Freitagmorgen, halb zehn. Eigentlich sollte er gerade bei dem täglichen Treffen der Israelischen Kultusgemeinde (IKG) sein, bei dem seit knapp drei Monaten jeden Tag besprochen wird, wie den geflüchteten Jüdinnen und Juden aus der Ukraine am effektivsten geholfen werden kann, erzählt Maxim Slutski. Er ist einer dieser Helfer und als Koordinator unmittelbar in das Hilfsprojekt involviert. Heute macht er wegen unseres Interviews eine Ausnahme und wird nicht an der sogenannten Krisensitzung teilnehmen.
Wir treffen uns in einem geschichtsträchtigen Haus im ersten Wiener Gemeindebezirk. Hier wurden während des Holocausts Jüdinnen in sogenannten Sammelwohnungen zusammengepfercht, um sie anschließend in Konzentrationslager zu deportieren. Heute befindet sich in diesem Haus das Büro des Immobilienspezialisten Maxim Slutski – Geschäftstreffen finden seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hier allerdings keine mehr statt. Slutski hat seine Arbeit nämlich vorläufig aufgegeben, um sich ganz auf die Hilfsarbeit fokussieren zu können. Er war lange nicht mehr aktiv in der IKG engagiert, berichtet er. Bis der Krieg ausbrach und ihm klar wurde, dass jetzt alle zusammenarbeiten müssen. Maxim Slutski ist ein Mann, der nicht gerne im Vordergrund steht. Während er privaten Fragen eher ausweicht, wird er nicht müde zu betonen, wie dankbar er für die Hilfe der vielen Freiwilligen sei.
Großes Engagement
Wir setzten uns in einen der großen Räume, in denen auch regelmäßig gemeinschaftliche Essen für die Geflüchteten stattfinden. Neben uns liegen stapelweise Plastikboxen mit frisch zubereitetem koscherem Frühstück, die im Laufe des Morgens abgeholt bzw. verteilt werden. Auch mir wird eine angeboten. Über Slutski hängt ein großes Bild von Menachem Schneerson, dem Rabbiner der Chabad-Gemeinschaft. Neben ihm sitzt Moshe Kolomoitsev, der junge Rabbi der Jewish Russian Speaking Community Vienna (JRCV).
Sowohl Slutski als auch Kolomoitsev sind in der Ukraine geboren und gehören zur Chabad-Gemeinschaft, die in der Ukraine die größte jüdische Community ausmacht. In Wien zählte sie vor Kriegsbeginn rund 700 Mitglieder, mittlerweile sind es mehr als doppelt so viele. In den ersten Tagen des Angriffskriegs halfen Mitglieder der jüdisch-russischen Gemeinschaft ihren Freunden und Familien, sicher nach Wien zu kommen. Als auch andere jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer vom Engagement der JRVC hörten, klingelten ihre Handy pausenlos, berichtet Rabbi Kolomoitsev. Nachdem die IKG ihre Hilfe zugesichert hatte und somit mehr Ressourcen für akute Hilfeleistungen vorhanden waren, teilte man Nachrichten auf Social Media, um jüdische Vertriebene und Flüchtende explizit nach Österreich einzuladen.
Die Resonanz war riesig und die jüdische Gemeinde reagierte schnell: Rund 220 Wohnungen mietet die IKG mittlerweile für jüdische Geflüchtete, aber auch Hotels wie etwa die Orangerie im 12. Bezirk stellen Zimmer zur Verfügung. Es wird Unterstützung für Amtswege organisiert und finanzielle Hilfe von der Gemeinde zur Verfügung gestellt. Außerdem bietet das psychosoziale Zentrum ESRA psychologische Hilfe an. Jüdische Schulen und Kindergärten nehmen ukrainische Kinder auf.
Wien als neue Heimat
„Ein Zuhause für jene schaffen, die ihr Zuhause verloren haben.“ So beschreibt es Rabbi Moshe Kolomoitsev. Praktizierende Jüdinnen und Juden sollen hier ein jüdisches Leben führen können. Wien hat eine aktive jüdische Gemeinde mit diversen Gebetsstätten, koscheren Supermärkten und Restaurants. „Diese Infrastruktur sowie die Unterstützung der IKG sind die Gründe, weshalb viele Juden Wien als neue Heimat nach ihrer Flucht anpeilen“, so Slutski.
Die IKG bietet mehrmals täglich koscheres Essen an, das von Gemeindemitgliedern zubereitet wird. Allein in Slutskis ehemaligem Büro kommen täglich rund 200 jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer zusammen, um koscher zu speisen. Es gibt eine gut ausgestattete Küche und viele Freiwillige, die täglich frisch kochen. „An einem Strang ziehen“, erläutert Slutski die Devise und lobt das Engagement des IKG-Präsidenten Oskar Deutsch, der – mit vielen anderen Mitgliedern – alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um effektiv und schnell Hilfe leisten zu können. Sein eigenes Engagement ist für Slutski eine Selbstverständlichkeit: „Es darf nicht passieren, dass Jüdinnen und Juden aus der Ukraine später einmal sagen, ihnen wurde nicht geholfen.“
Neben staatlichen Hilfsleistungen für Geflüchtete gibt es für die neuen IKG-Mitglieder auch monetäre Unterstützung: „Auch wenn viele der Geflüchteten einst erfolgreiche Geschäftsleute waren, haben sie in der momentanen Situation oft nicht mehr als ihr Auto und das, was bei der Flucht noch ins Fahrzeug gepasst hat. Auch diese Menschen unterstützen wir.“ Finanziert werden diese Hilfeleistungen mittels Spenden innerhalb der Gemeinde. „Die Tora gibt vor, dass man zehn Prozent seines Einkommens spenden soll. In Zeiten wie diesen sind es bei jenen, die es sich leisten können, eben sechzig oder sogar siebzig Prozent.“ Kontakt und Hilfeleistungen für Menschen, die in der Ukraine geblieben sind, gibt es auch noch. Doch immer mehr verlagere sich die Unterstützung auf Hilfsbedürftige in Wien, da die Versorgung von über tausend Geflüchteten viele Ressourcen verbraucht.
Möglicher Zuwachs
Es lässt sich nur mutmaßen, ob die ukrainischen Jüdinnen und Juden auch nach Kriegsende in Wien bleiben werden. Slutski geht davon aus, dass es umso wahrscheinlicher wird, je länger die Menschen hier sind: „Natürlich gibt es welche, die ihre Koffer nicht einmal richtig auspacken und nach dem Krieg sofort wieder zurückwollen. Aber vor kurzem habe ich mit einer Familie aus Odessa gesprochen. Sie wollte ursprünglich gleich wieder zurück. Nach einer Bombenattacke auf ihre Stadt war für sie allerdings klar, dass sie mit diesem Gedanken abschließen müssen und sich hier ein neues Leben aufbauen werden.“
Die jüdische Gemeinde in Wien könnte dadurch ein signifikantes Wachstum erfahren. Slutski vermutet ein ähnliches Szenario wie in den 1990er und 2000er Jahren in Deutschland, als die Anzahl deutscher Juden durch die sogenannten „Kontingentflüchtlinge“ erstmals wieder wuchs. Damals durften Jüdinnen und Juden sowie Menschen mit jüdischen Vorfahren aus der Sowjetunion nach Deutschland auswandern. Über einen Zuwachs in der jüdischen Gemeinde würde man sich hier jedenfalls freuen, versichert Rabbi Moshe Kolomoitsev.
Wann Slutski seiner Arbeit als Geschäftsmann wieder nachgehen wird, steht für ihn noch nicht fest. „Wie kann man sich ein Limit fürs Helfen setzten, wenn man doch weiß, dass woanders Leute vor dem Krieg flüchten?“