Ayelet Benedek ist eine der Überlebenden des Hamas-Massakers. Ihr Mann, David „Katchko“ Katzir wurde von den Terroristen erschossen. Bei einem Besuch in Wien teilte die Psychotherapeutin ihre Erinnerungen an die längsten 30 Stunden ihres Lebens mit uns.
Danielle Spera
Ayelet Benedek: Für mich begann der 7. Oktober 2023 um 6:20 Uhr. Mein Mann war gerade mit dem Auto losgefahren – auf eine Reise, die er schon Wochen vorher geplant hatte. Um 6:29 Uhr begann der Raketenhagel. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Es war der pure Schock. Katchko rief mich an und sagte, er käme zurück zu mir, aber ich bat ihn, sich rasch einen Schutzraum zu suchen, denn in unserer Region, nahe Gaza, gibt es viele. Doch er legte auf, weil er unbedingt bei mir sein wollte. Von seinem Standort bis zu unserem Haus sind es nur fünf Minuten. Er kam nicht. Nach einer Viertelstunde hörte ich draußen Gewehrschüsse, RPG-Granaten und Rufe auf Arabisch. Ich flüchtete in unseren kleinen Schutzraum, der allerdings nur für Raketenangriffe gebaut ist, daher ist er nicht versperrbar. Dort versteckte ich mich im Kasten. Die Terroristen gingen von Haus zu Haus und zerstörten alles. Wie durch ein Wunder überlebte ich. Es ist mir unerklärlich, dass sie mich nicht gefunden haben. Ich glaube bis heute, dass mein Mann sich für mich geopfert hat und vom Himmel auf mich schaute.
NU: Sie konnten noch eine Zeit lang kommunizieren.
Ayelet Benedek: Mein Handy funktionierte noch eine Zeit lang. Da schrieb mir eine junge Patientin und fragt mich, ob sie eine zweite Beruhigungspille nehmen dürfe. Ich riet ihr, den Arzt anzurufen, sie meinte, sie sei im Schutzraum, da sagte ich, nimm die Beruhigungspille. Sie war 24 und noch Jungfrau. Sie und ihre Schwester wurden vergewaltigt und getötet, ihre ganze Familie ausgelöscht. Ich könnte viele solcher Geschichten erzählen. Als es dann ganz ruhig wurde und ich den Eindruck hatte, dass die Terroristen weg sind, traute ich mich heraus. Ich holte Wasser, etwas zu essen – habe es aber schließlich nicht angerührt –, eine Taschenlampe, ein Buch und einen kleinen Topf als „Toilette“. Ganz rasch fotografierte ich die Verwüstung. Ich wollte die Schäden dokumentieren, weil ich nicht darauf vertrauen wollte, dass der Staat alles wiedergutmacht. Angst hatte ich die ganze Zeit nicht. Als Psychotherapeutin weiß ich, wie fatal es ist, in einer solchen Situation in einen Schockzustand zu verfallen. Ich musste aktiv bleiben.
NU: Wie haben sie das geschafft?
Ayelet Benedek: Ich las mit der Taschenlampe bis Seite 162, bis die Batterie ausging. Draußen hörte der Beschuss nicht auf, immer wieder Schüsse, Raketen, arabische Rufe. Ich schrieb meinem Sohn und meinem Bruder über WhatsApp: „Wenn ich sterbe, müsst ihr wissen, dass ich euch und euren Vater so sehr geliebt habe. Lebt euer Leben!“ Dann war der Akku leer. Ich saß insgesamt 30 Stunden in meinem Schutzraum. Mein einziger Gedanke war, nicht an meinen Mann zu denken – sonst wäre ich zusammengebrochen. 30 Stunden lang stellte ich mir vor, in einem Museum zu sein, unterhielt mich geistig mit Picasso, Toulouse-Lautrec oder Klimt, die ich so sehr liebe. Das hielt mich „wach“ im Kopf. Ich habe in der Zeit mitbekommen, dass der Überfall in drei Wellen ablief.
NU: Drei Wellen?
Ayelet Benedek: Ja zuerst waren es die Hamas-Kämpfer, die gemordet, vergewaltigt, zerstört haben, dann palästinensische Zivilisten und am Ende Frauen und Kinder, die alles plünderten, was noch da war, wir haben das dann auch alles auf den Überwachungsvideos gesehen. Sie haben sich neben getöteten Menschen, Essen oder Getränke aus den Kühlschränken geholt.
NU: Wann haben Sie sich aus dem Schutzraum getraut?
Ayelet Benedek: Nach etwa 30 Stunden hörte ich plötzlich auf Hebräisch: „Ist hier jemand am Leben?“ Ich wusste, dass sich Terroristen als Soldaten verkleiden. Daher zögerte ich zuerst, öffnete dann ein kleines Lüftungsfenster im Schutzraum und blickte vorsichtig hinaus. Ein junger Soldat forderte mich auf, mich ruhig zu verhalten, weil das Haus wahrscheinlich mit Sprengstoff präpariert sei. Vier sehr junge Soldaten zogen mich schließlich sanft heraus. Ich erinnere mich, wie sie mich mit ihren Körpern abschirmten, um mich zu schützen. Im ganzen Haus waren Granaten verstreut, der Kühlschrank stand offen. Ich war noch im Schock, erwähnte sogar, halb im Scherz, dass ich das Ganze für eine Art sexuelle Belästigung halten könnte, so absurd erschien mir die Situation.
NU: Wie haben Sie diese Minuten erlebt?
Ayelet Benedek: Sie brachten mich in einen gesicherten Bereich am Kibbuz-Kiosk, der völlig ausgebrannt war. Ich lud mein Handy auf, um endlich meinem Sohn zu schreiben. Er war von einem Freund aus dem Kibbuz abgeholt worden. In den folgenden zwei Monaten waren wir als Familie – Kinder, Enkel und ich – oft beieinander. Das half mir, überhaupt wieder zu atmen. Bis vor einem Jahr weinte ich oft, vor allem in Interviews oder wenn mich jemand unvermittelt darauf ansprach.
NU: Was geschah mit ihren Nachbarn?
Ayelet Benedek: Einer meiner unmittelbaren Nachbarn wurde getötet. Sein Kind war schon älter, aber er selbst fiel. Ein weiterer Freund rettete seine Frau und ihre einmonatige Tochter in letzter Minute. Deren Haus wurde völlig ausgebrannt. Auch bei uns versuchten die Terroristen das Haus anzuzünden, es gelang ihnen nicht. 20 Meter hinter mir, im „jungen“ Wohnviertel, sind alle Bewohner entweder getötet oder verschleppt worden. Diese Stätte der Vernichtung liegt so nah, und doch habe ich überlebt. Ich habe gelernt, schon früh am Morgen zu meditieren, um nicht verrückt zu werden.
NU: Warum haben Sie sich so nah an der Grenze zu Gaza angesiedelt?
Ayelet Benedek: Ich stamme aus einem Kibbuz am See Genezareth. Als ich meinen Mann kennenlernte, zog ich zu ihm in diesen finanziell besser ausgestatteten Kibbuz ganz in der Nähe von Gaza. Dort lebten wir mehr als 40 Jahre lang. Schon als unsere Kinder klein waren, fragten sie: „Mama, warum wohnen wir hier?“ Ich erklärte: „Es ist legal hier zu leben, es ist keine Siedlung, wir sehen es als Mission, hier zu leben.
NU: Hatten Sie jemals palästinensische Freunde?
Ayelet Benedek: Ja, natürlich. In den 1980er- und 1990er-Jahren arbeiteten viele Palästinenser aus Gaza bei uns im Kibbuz. Wir zahlten ihnen gute Gehälter, veranstalteten sogar kleine Musik- und Theaterabende für sie. Es gab sehr enge, freundschaftliche Kontakte. Bis zum 7. Oktober 2023: An jenem Tag kamen sie nicht „als Kämpfer“, sie kamen als Zivilisten und stahlen alles – Kühlschränke, Betten, Schmuck. Und sie zündeten unsere Häuser an, plünderten und töteten unbarmherzig. Sie marschierten wie bei einer Siegesparade durch unser Dorf und freuten sich über die Verwüstung.
NU: Hat dieses Erlebnis Ihre politische Haltung verändert?
Ayelet Benedek: Nicht grundsätzlich. Als Kennerin der Region weiß ich um die komplizierte Geschichte. Ich war immer für Frieden und habe mit Palästinensern immer das Gespräch gesucht. Aber heute weiß ich, dass man politischen Willen braucht, nicht nur Parolen. Ich glaube, eines Tages wird es Frieden geben, so wie sich die europäischen Staaten nach jahrhundertelangen Kriegen stabilisiert haben. Aber der Weg ist lang, und die politischen Strukturen in den palästinensischen Gebieten sind noch nicht auf eine friedliche, säkulare Lösung ausgerichtet.
NU: Wie stehen Sie zu den Protesten gegen Israel in Europa und den USA, wo man Israel als „genozidalen Staat“ beschimpft?
Ayelet Benedek: Ich halte das für blanken Unsinn. Viele Demonstranten haben keinerlei Ahnung von Geschichte oder Gegenwart. Sie wollen nicht zuhören, sie schreien nur Parolen wie „From the river to the sea“. Ich habe an US-Universitäten Vorträge gehalten und gesagt: „Wenn ihr Geschichte verstehen wollt, recherchiert zuerst, ehe ihr Menschen verleumdet.“ Aber viele sind schlicht ideologisch verblendet.
NU: Die Reaktion Israels auf das Massaker und die Geiselnahmen wurde oft als unverhältnismäßig kritisiert.
Ayelet Benedek: Was würden Sie tun, wenn Terroristen Ihren Mann, Ihre Frau, Ihre Kinder töten, und Sie als Geisel nehmen. Wenn es Mord, Raub, Vergewaltigungen gibt. Was würden Sie tun? Würden Sie die zweite Wange
hinhalten, wie Jesus es sagte? Ich muss mich da sehr zusammenreißen, vor allem, wenn manche sagen, das ist ja gar nicht so passiert. Das ist wie Holocaust-Leugnung. Es gibt tatsächlich Leute die behaupten, der Holocaust habe nicht stattgefunden. Ich kann nicht mit Menschen diskutieren, die nicht zuhören wollen. Ich mache mir große Sorgen und bin nicht sehr optimistisch. Aber es wird letztendlich Frieden sein. Ich weiß nicht, vielleicht in hundert oder tausend Jahren. Es muss so sein.
NU: Glauben Sie, dass Europa und die Demokratien sich verändern werden?
Ayelet Benedek: Ich denke, Europa muss lernen, sich selbst zu schützen. Die Demokratie wird ihr Gesicht wandeln, um den neuen Herausforderungen zu begegnen. Ob das besser oder schlechter wird, hängt davon ab, wer das Ruder übernimmt. Aber ich sehe Parallelen zu den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts: Wenn sich Spannungen zu lange aufbauen, knallt es irgendwann.
NU: Werden Sie in den Kibbuz zurückkehren?
Ayelet Benedek: Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich lebe jetzt allein und habe bewusst Abstand zur Gemeinschaft genommen, um in Ruhe zu trauern. Ich habe meine Praxis fast ganz neu aufbauen müssen – mein Mann hatte für mich die Bürokratie erledigt. Die Hälfte meiner Patienten sind getötet worden, meine Unterlagen wurden zerstört, ich stehe mit 63 Jahren wieder am Anfang. Meine Kinder haben gesagt: „Mama, wenn du zurückgehst, dann kommen wir nicht mehr zu Besuch zu dir.“ Ich glaube ihnen.
NU: Woraus schöpfen Sie trotzdem Hoffnung?
Ayelet Benedek: Ich glaube an die Kraft des Einzelnen, an Bewusstsein und Erinnerung. Solange wir uns die Geschichte vor Augen führen, wird uns niemand mundtot machen können. Und eines Tages, da bin ich sicher, wird Frieden sein – wenn nur genug Menschen bereit sind, dafür einzustehen.
