In der größten Volkswirtschaft der Welt ist der Kampf gegen die Inflation das heißeste Thema. Der Krieg in der Ukraine könnte freilich alle optimistischen ökonomischen Prognosen zunichtemachen.
VON HEDI SCHNEID
Das Geschenk, das US-Präsident Joe Biden seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern unter den Weihnachtsbaum gelegt hat, ist viel bescheidener ausgefallen als ursprünglich geplant. Erst nach einer monatelangen Blockade durch Bidens eigene Partei hat der US-Kongress im November das auf die Hälfte reduzierte Infrastrukturprogramm beschlossen. Immerhin umfasst das Programm inklusive schon zuvor veranschlagter Mittel 1,2 Billionen Dollar. Rund 550 Milliarden davon sollen in den nächsten Jahren in die dringend notwendige Modernisierung von Straßen, Brücken, Flughäfen, die Bahn sowie in schnelles Internet fließen.
Der Schub, der sich auch im Geldbörsel aller US-Amerikanerinnen und -Amerikaner bemerkbar machen sollte, ist eines der innenpolitischen Kernvorhaben des Präsidenten, der nach der Abwahl des erratischen Donald Trump zumindest anfangs von vielen als Erneuerer und Einiger gefeiert wurde. Einen „New Deal“ versprach Biden seinen Landsleuten nach dem Vorbild des großen Reformers Franklin D. Roosevelt: Insgesamt mehr als drei Billionen Dollar wollte er in die Wirtschaft, in soziale Wohlfahrt und den Klimaschutz pumpen. Millionen neue Jobs sollten entstehen, soziale Ungerechtigkeiten eingeebnet, die Verwüstungen durch die Pandemie beseitigt werden.
Die große Hoffnung
Etwas mehr als ein Jahr nach Bidens Amtsantritt ist nicht nur wegen außenpolitischer Misserfolge, wie dem chaotischen Abzug aus Afghanistan, auch in der Wirtschaft Ernüchterung eingetreten: Denn das zweite große Vorhaben Bidens, das Sozialpaket, das auch Ausgaben im Kampf gegen die Klimakrise enthält, hängt nach wie vor in der Luft. Auch da gibt es Biden mittlerweile bescheidener, statt den geplanten 3,5 Billionen ist nun ein Umfang von 1,75 Billionen Dollar vorgesehen. Die Gegenfinanzierung durch Steuererhöhungen für Konzerne und Spitzenverdiener hat den konservativeren Flügel der Demokraten auf die Palme gebracht. Der Streit in den eigenen Reihen schwächt jedoch die Partei – nicht gerade eine optimale Voraussetzung für die Kongresswahlen im Herbst. Währenddessen stichelt Trump, wann immer sich ihm die Gelegenheit bietet.
Sieht man sich die jüngsten Zahlen zur Wirtschaftsentwicklung an, möchte man jedoch meinen, dass auch heftige innenpolitische Querelen dem Land nicht viel anhaben können. Tatsächlich hat die US-Wirtschaft mit einem Wachstum von 5,7 Prozent auf knapp 23 Billionen Dollar 2020 das stärkste Plus seit fast 40 Jahren hingelegt. Da kommt China, das die USA vom Thron der größten Volkswirtschaft der Welt stoßen möchte, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 16,8 Billionen noch lange nicht mit. Auch Europa hinkt hinterher: In den 19 Ländern der Eurozone, wie in der gesamten EU, wuchs die Wirtschaft im Vorjahr um 5,2 Prozent, nachdem sie im ersten Pandemiejahr 2020 um satte 6,4 Prozent eingebrochen war. In den USA betrug der Rückgang 2020 indes nur 3,4 Prozent.
Auch auf dem Arbeitsmarkt läuft es wieder rund, im Dezember lag die Arbeitslosenrate bei nur 3,9 Prozent, im Jänner wurden mit 467.000 Jobs mehr neue Stellen geschaffen als erwartet. Auch die Lohnentwicklung liegt über den Prognosen: Die durchschnittlichen Stundenlöhne stiegen im Jahresvergleich um 5,7 Prozent. Die Kehrseite der Medaille: Viele Firmen klagen über einen gravierenden Mangel an Fachkräften. Die sind auch schwer zu ersetzen, denn in der Pandemie haben sich rund vier Millionen Arbeitnehmerinnen und -nehmer aus dem Jobmarkt verabschiedet: Weil sie, wie die Pflegekräfte, dem Druck nicht mehr standhielten, oder weil sie sich woanders mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen erhofften. Viele sind auch in die Selbstständigkeit gewechselt. Der Anteil der verfügbaren Arbeitskräfte an der Gesamtbevölkerung liegt derzeit bei 62 Prozent, das ist der niedrigste Wert seit den 1970er Jahren.
Böse Erinnerungen
Was macht, abgesehen von den Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt, der Politik und der Wirtschaft jenes Landes, das mit Microsoft, Apple und Co. einige der größten Tech-Giganten besitzt – dazu mit Walmart und Amazon die umsatzstärksten Handelskaiser –, und das mit der größten Börse die globale Finanzwelt dominiert, aber wirklich große Sorgen? Die Antwort ist so einfach wie die Lösung des Problems schwierig: Die Inflation, die jahrelang auf niedrigem, um nicht zu sagen allzu niedrigem Niveau von ein bis drei Prozent dahindümpelte, ist seit dem Vorjahr förmlich explodiert. Die Teuerungsrate von sieben Prozent im Dezember ist die höchste seit 40 Jahren und weckt Erinnerungen an die große Rezession.
Die Preise steigen weltweit, in den USA aber besonders stark. Die Ursachen sind vielfältig: Die überraschend schnelle Erholung der Weltwirtschaft im zweiten Pandemiejahr hat die Nachfrage nach Öl und Gas steigen lassen, was wiederum die Energie- und Stromkosten in Höhe trieb. Dazu kommt die Verknappung bei vielen Rohstoffen, die ebenfalls zur Verteuerung führt. Und nicht zuletzt sind es die durch wiederholte Lockdowns gerissenen Lieferketten: Viele Produzenten, vor allem in Asien, haben in der Pandemie ihre Fertigung heruntergefahren oder ganz stillgelegt und kommen mit dem Wiederhochfahren nicht so schnell nach. Der Mangel an Chips schlägt sich besonders gravierend nieder, da sie vom Auto bis zum Handy und Kühlschrank in so gut wie jedem Konsumgut und natürlich auch in Industrierobotern und Maschinen stecken. In der Seefracht fehlen zudem Container, was die Transportpreise im Schnitt verzehnfacht hat. Auf längere Sicht werden die Unternehmen die höheren Kosten, falls sie es nicht schon getan haben, an ihre Kundinnen und Kunden weitergeben. Dass die Konjunktur so rasch wieder angesprungen ist, ist auch den milliardenschweren Corona-Hilfspaketen zu verdanken.
Dazu kommt der Ende Februar von Russland ausgelöste Krieg in der Ukraine, der nicht nur politisch für die Biden-Regierung eine extreme Herausforderung darstellt, sondern auch das Energiethema weiter befeuert. Die Invasion hält zwar die ganze Welt in Atem, aber die USA spielen als politische und wirtschaftliche Großmacht und größtes NATO-Mitglied eine besondere Rolle. Wobei die USA energiepolitisch einen großen Vorteil haben: Sie sind, anders als Europa und viele asiatische Staaten, nicht von russischem Öl und Gas abhängig. Zum einen gibt es im Golf von Mexiko genug Öl, zum anderen haben die USA vor Jahren das sogenannte Fracking begonnen, mit dem aus Gesteinsschichten Erdgas und -öl gelöst wird. Der erhoffte Boom, der das Land energieautark machen sollte, blieb jedoch aus, als der Ölpreis deutlich fiel. Fracking lohnt sich erst ab einem Preis von rund 50 Dollar je Fass, weshalb viele Firmen wieder dichtmachen mussten. Jetzt, bei einem Preis von nahezu 100 Dollar, wird die Produktion wieder angefahren. Wenn sich jedoch die USA, wie im Regierungsprogramm vorgesehen, von fossilen Energieträgern verabschieden, dann bedeutet das für das ohnedies umweltschädliche Fracking das Aus.
Drehen an der Zinsschraube
Zurück zur Inflation: Als wirksamstes Instrument im ökonomischen Erste-Hilfe-Koffer gilt das Drehen an der Zinsschraube. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hat schon reagiert und im Dezember die Änderung ihrer Zinspolitik signalisiert. Für 2022 wurden drei Schritte angekündigt. Angesichts des anhaltend hohen Drucks auf die Preise wird in Finanzkreisen bereits über vier oder sogar fünf Zinsschritte gemutmaßt. Der geldpolitische Gleichschritt von USA und Europa, den die Zentralbanken mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 einschlugen, indem sie milliardenschwere Anleihenkäufe zur Unterstützung der Wirtschaft initiierten, dürfte damit nun endgültig vorbei sein. Denn im Unterschied zur US-Notenbank zögert die Europäische Zentralbank noch. In Europa dürfte es, wenn überhaupt, erst später im Jahr zu einer Zinsanhebung kommen, obwohl der Druck auf die EZB steigt.
Die Fed beendet ihre lockere Geldpolitik, die durch die Pandemie-Krisenprogramme noch einmal ausgeweitet wurde, und plant, ihre auf neun Billionen Dollar angeschwollene Bilanz noch im Laufe dieses Jahres abzubauen. Von Beginn der Corona-Krise bis Oktober 2021 hat die Fed pro Monat Anleihen im Wert von 120 Milliarden Dollar angekauft. Anfang dieses Jahres waren es nur mehr 30 Milliarden, im März war die Reduktion, das sogenannte Tapering, abgeschlossen. Damit – und mit der Erholung auf dem Arbeitsmarkt – waren die Voraussetzungen für den ersten Zinsschritt gegeben. Er erfolgte Mitte März. Wann die nächsten kommen, ist noch offen, schließlich gilt es, sachte vorzugehen. Denn zu große und abrupte Zinsschritte mögen die Börsen gar nicht, weil sich Anleger dann rasch anderen Anlageformen zuwenden, was die Kurse drückt. Bisher hat die Wall Street auf die Ankündigung der Fed gelassen regiert. Nach dem starken Kurseinbruch zu Beginn der Pandemie im März 2020 hat der Dow-Jones-Index eine beispiellose Aufholjagd hingelegt und sich auf 35.132 Punkte (Ende Jänner) nahezu verdoppelt. Generell hat die Volatilität an den Börsen aber zugenommen. Eher pessimistisch gestimmte Börsianer schließen einen Crash nicht aus, was aber vor allem dem Krieg in Osteuropa geschuldet ist.
Rekordverschuldung
Prinzipiell befinden sich die Notenbanken in einem Dilemma: Bekämpfen sie erfolgreich die Inflation oder würgen sie mit zu vielen Zinserhöhungen die Konjunktur ab? Warten sie jedoch zu lange – wie das in Europa möglich sein könnte –, dann könnte es erst recht zu Schockreaktionen an den Finanzmärkten kommen. Für das laufende Jahr rechnet die Fed auch wegen der höheren Zinsen mit einem geringeren Wirtschaftswachstum von vier Prozent. Denselben Wert nimmt der Internationale Währungsfonds (IWF) für die USA an. Die Position als größte Volkswirtschaft der Welt dürften die USA laut Prognosen des IWF auch in den nächsten fünf Jahren gegenüber China verteidigen können. Die Volksrepublik musste sich – auch pandemiebedingt – von den einstigen Wachstumsraten von rund sieben Prozent verabschieden, sie bleibt den USA aber auf den Fersen. Wobei im Verhältnis der beiden Giganten der von Donald Trump angeheizte Handelskrieg nach wie vor eine Rolle spielt, auch wenn Biden Mäßigung versprach.
Der Dauerbrenner der US-Wirtschaftspolitik ist freilich die hohe Verschuldung. Egal, welcher Präsident welcher Partei am Ruder war – die Schulden sind weiter gestiegen. Mit 30,57 Billionen Dollar überstiegen sie im Jahr 2021 deutlich die Wirtschaftsleistung – wieder einmal, denn die USA eilen bei der absoluten Verschuldung von Rekord zu Rekord. Wobei, und das ist das Dilemma, die Konjunkturprogramme die Schulden noch weiter anheizen. Trump konnte dabei einen weiteren Negativrekord für sich in Anspruch nehmen: Unter seiner Präsidentschaft gab es die höchste absolute und relative Neuverschuldung binnen eines Jahres in der US-Geschichte. Betrachtet man hingegen die Staatsschuldenquote (Schulden in Bezug auf die Wirtschaftsleistung), liegen die USA mit einem Wert von 127,1 Prozent weltweit nur im Mittelfeld. Alles paletti also? Mitnichten. Denn auch die Quote steigt.
Die schon 1939 etablierte Schuldenobergrenze blieb völlig zahnlos, sie wurde regelmäßig per Beschluss im Kongress ausgehebelt. Ihre Anhebung, die notwendig ist, um den Zahlungsausfall der Regierung („Shutdown“) abzuwenden, war und ist eigentlich meist ein Formalakt. Allerdings kam es 2011 unter Präsident Barack Obama zu einer Budgetkrise, als die Anhebung des Schuldendeckels lange blockiert wurde. Das ist künftig durchaus wieder möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlicher, da die zunehmende Polarisierung zwischen Republikanern und Demokraten einen Konsens immer schwieriger macht. Mitte Dezember wurde der Schuldendeckel angehoben – auf 31,4 Billionen Dollar. Im Februar war es allerdings schon wieder so weit und ein neuer Übergangshaushalt musste her. Der höhere Rahmen dürfte jedoch abermals nicht lange halten. Die dauernde Anhebung ist jedenfalls keine nachhaltige Lösung, und eine solche ist auch nicht in Sicht. Denn auch wenn die USA in der Zinsenfrage jetzt so schnell reagieren wie 2008 nach der Finanzkrise, als viele strauchelnde Banken geschlossen wurden und die Staatshilfen für große Institute relativ rasch wieder zurückgezahlt wurden: Für die nachhaltige Budgetsanierung und Schuldenreduktion hatte bisher kein Präsident ein Rezept.