Gut 80.000 Juden äthiopischer Herkunft leben heute in Israel. Wie sie erst nach Afrika und dann zurück gelangten, ist eine abenteuerliche Geschichte. Äthiopiens uralter Gründungsmythos und seine christliche Religion sind, auch wenn die Beta Israel nicht mehr dort leben, ohne diese Juden nicht denkbar. Bericht über eine Spurensuche in Ostafrika.
Von Cornelia Mayrbäurl (Text und Fotos)
Um ehrlich zu sein: Dieses in Reiseführern erwähnte Dorf ist eine Enttäuschung. Vielleicht wird der Frust dadurch verstärkt, dass wir wegen einer Reifenpanne Wolleka erst nach Sonnenuntergang erreicht haben und das Licht schon grau ist. Aber ich hatte doch gehofft, hier etwas über das Leben und die Kultur der äthiopischen Juden zu erfahren, der Beta Israel oder Falaschen, wie sie früher genannt wurden. Stattdessen habe ich keine Sekunde Zeit, mich umzuschauen, weil mich nach dem Aussteigen aus dem Jeep sofort ein Bub in Beschlag nimmt und mich zur Synagoge lotsen will. Na gut, ich folge ihm also auf einem Fußpfad durch lockeres Gebüsch, zwischen einigen der üblichen Rundhütten. Nach ein paar Minuten sind wir da, was mir aber nicht gleich klar wird. Denn die Synagoge unterscheidet sich durch nichts von den anderen Hütten, außer dass sie auf dem spitz zulaufenden Runddach einen Davidstern trägt, der in der Dämmerung nur mehr schwer erkennbar ist. Sonst gibt es nur mehr ein paar Souvenirstände am Rand der Straße.
Es müssen um die 100.000 Juden gewesen sein, die bis Mitte der 80er-Jahre im nördlichen Teil Äthiopiens lebten, eben in Dörfern wie Wolleka. Kein Museum erzählt von ihnen, und doch ist ihre Geschichte – wie sie nach Äthiopien kamen und von dort wieder gingen – unglaublich spannend. Die Beit Israel haben tiefe kulturelle Spuren hinterlassen, die man aber erst einmal finden muss: Wie kommt es, dass beim höchsten Fest der äthiopischorthodoxen Christen sich alles um die Bundeslade aus dem Tempel Salomos dreht? Warum prangt in einer der Felskirchen von Lalibela, die ein wahres Weltwunder sind, ein Davidstern?
Zuerst zur jüngeren Vergangenheit. Von 1974 bis 1991 wurde Äthiopien vom Steinzeit-Kommunisten Mengistu Haile Mariam regiert. Tausende Beit Israel flohen – kurz bevor die Weltöffentlichkeit 1985 auf die Katastrophe aufmerksam wurde – wegen des Hungers und wegen Kampfhandlungen in den Sudan. Da griffen die USA und Israel ein: Im November 1984 richteten sie unter dem Decknamen „Operation Moses“ eine geheime Luftbrücke ein und flogen 8000 Juden nach Israel aus. Ein paar Jahre später, 1990, erlaubte Mengistu dann einigen Beit Israel die Alija. Das Kalkül dahinter: Israel sollte – und tat es anfänglich auch – im Gegenzug Waffen liefern, die Mengistu dringend im Kampf gegen Aufständische brauchte. Mehr als 20.000 Beit Israel wollten ihre Chance nützen und verließen ihre Dörfer; in der Hauptstadt Addis Abeba entstand ein riesiges Lager.
Gleichzeitig setzten die Guerillatruppen Mengistus Regierung immer mehr zu. Jüdische Organisationen in den USA waren höchst besorgt: Würde Mengistu in seinem verzweifelten Abwehrkampf die Beit Israel massakrieren? Ende April 1991 rangen die USA einerseits Mengistu die Zusage ab, dass die Juden ausreisen durften, und erhielten andererseits von den Guerillas, die bereits den Großteil des Landes kontrollierten, Rückhalt für eine Luftbrücke. „Die Guerillaführer“, darunter der heutige Präsident Meles Zenawi, „teilten die weitverbreitete Meinung, dass mit der Ausreise ein uralter Teil der äthiopischen Bevölkerung verlorenginge, sie sahen aber auch politische Vorteile“, schreibt der US-Diplomat Paul Henze in seiner „Geschichte Äthiopiens“.
Wieder in einer US-israelischen Aktion wurden im Mai 1991 innerhalb von nur 36 Stunden alle Beit Israel ausgeflogen, die Israel als Juden anerkannte. Auf einem der Flüge wurden in einer Boeing 747, die laut Plan 760 Passagiere fassen sollte, 1122 Menschen transportiert – ein Weltrekord. Das war nicht nur möglich, weil die Äthiopier so wenig wogen; während des Fluges kamen auch zwei Kinder zur Welt.
Nur Stunden bevor die Jets starteten und landeten, war es den Rebellen gelungen, Addis Abeba zu erobern. Mengistu musste nach Zimbabwe fliehen. Genau am Tag des Sturzes von Mengistu überwies Israel 35 Millionen Dollar „Lösegeld“ für die Beit Israel auf ein Konto der äthiopischen Regierung in New York. Doch das war ein Samstag, und weil die USA die neue Regierung sofort anerkannten, hatte Mengistu am Montag schon keinen Zugriff auf das Konto mehr.
Heute leben in Israel gut 80.000 Juden, die noch in Äthiopien zur Welt gekommen sind. Eine Minderheit empfing sie eher mit Skepsis als mit offenen Armen: Nicht alle Israelis sehen eine Verbindung der Äthiopier mit dem Judentum. Tatsächlich gibt es bis heute keine hieb- und stichfeste Erklärung, wie die Juden – oder in Wahrheit doch fundamentalistische Christen, die hartnäckig an älteren Bräuchen festhielten? – in uralten Zeiten nach Afrika kamen. Seit 1975 erkennt Israel im Großen und Ganzen jedoch jene Legende als offizielle Version der Geschichte an, die in Äthiopien seit tausend Jahren von Generation zu Generation weitererzählt wird und welche nicht nur den Gründungsmythos der Nation bildet, sondern auch die äthiopisch- orthodoxe Kirche stark prägt.
So weiß jedes Kind, dass einst die Königin von Saba von Äthiopien nach Jerusalem zog, dort König Salomo bezauberte und, zurück in ihrer Heimat, seinen Sohn gebar. Dieser, Menelik, begründete nicht nur die salomonische Dynastie, deren letzter angeblicher Kaiser Haile Selassie bis 1974 regierte, sondern er reiste als junger Mann ebenfalls nach Jerusalem. Menelik schlug es aber aus, seinem Vater als König nachzufolgen. Stattdessen befahl Salomo den Ältesten der zwölf Stämme Israels, jeweils 1000 ihrer Angehörigen mit Menelik nach Äthiopien zu schicken. Und dieser Zug führte sogar das größte Heiligtum, das im Tempel aufbewahrt worden war, mit sich: die Bundeslade. Jene goldene Truhe, die die Steintafeln enthielt, auf denen Moses die am Berg Sinai empfangenen zehn Gebote niedergeschrieben hatte.
Der Rest der Welt mag glauben, dass die Bundeslade erst Jahrhunderte später nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier aus Jerusalem verschwand und nie wieder gefunden wurde. Doch die Tausenden Gläubigen in Axum, einer Kleinstadt im Norden Äthiopiens, zweifeln nicht. Wie jedes Jahr am 18. Jänner feiern sie, 2011 an einem warmen, sonnigen Nachmittag, Timkat, das höchste Fest der äthiopisch-orthodoxen Kirche, an dem eigentlich der Taufe Christi gedacht wird. Sie sind ganz sicher: Es ist die originale Bundeslade, die der Priester während der Prozession auf dem Kopf trägt, gebettet auf einen weißen Polster, umhüllt von schwarzem besticktem Samt, geschützt von zwei weißen Schirmen.
Dies ist auch der einzige Priester, der ihren Aufbewahrungsort, eine Kapelle, betreten darf und der die Bundeslade dort das ganze Jahr über bewacht. Eine Hälfte der Menschheit darf sich dieser Kapelle neben der Haile-Selassie-Kathedrale nicht einmal nähern. Als ich vor Beginn der Feierlichkeiten einen Schritt zu nahe komme, scheucht ein bewaffneter Mann mich – und noch einige andere Frauen – weg.
Unter beständigen Jubelrufen führt die Prozession dann an den berühmten granitenen Stelen der Könige von Axum vorbei; die heutige Kleinstadt war rund um Christi Geburt über Jahrhunderte Zentrum eines bedeutenden Reiches. Die höchste der Säulen, die noch stehen, misst 27 Meter; ohne die göttlichen Kräfte der Bundeslade, so sagen die Axumiten, hätte man diese Kolosse nie aufrichten können. Noch die ganze Nacht durch verehren und bewachen die in weiße Tücher gehüllten Gläubigen die Bundeslade, bis sie am nächsten Tag zur Kirche der Heiligen Maria von Zion zurückgebracht wird.
Im Alten Testament gibt es über 30 Hinweise auf Äthiopien, das die Hebräer Kusch nannten. So heiratet Moses eine kuschitische Frau, und im Buch Genesis ist vom Fluss Ghion die Rede – nichts anderes als der Blaue Nil. An seinem Verlauf auf äthiopischem Gebiet war der jüdische Einfluss vor der Auswanderung der Beit Israel besonders stark. Im Buch des Propheten Zefanja heißt es: „Selbst noch aus dem fernen Äthiopien werden sie – nämlich meine Anbeter, mein zerstreutes Volk – mir Opfergaben bringen.“ Es ist auch der Einfluss des Judentums, der die äthiopisch-orthodoxe Kirche von anderen christlichen Kirchen abhebt. Buben werden wenige Tage nach der Geburt beschnitten, und für Frauen gelten eine Reihe von Ge- und Verboten rund um die Menstruation. In jeder Kirche ist der Tabot das Heiligste, eine Kopie der Gesetzestafeln, deren Originale eben in der Bundeslade aufbewahrt werden.
Auf ganz besondere Weise vermischen sich Geschichte und Legende, Judentum und Christentum in Lalibela, das eine gute Tagesreise von Axum entfernt liegt, in einer kargen, trockenen Landschaft auf 2600 Metern Höhe. Tadesse Sefiw, selbst Diakon der Kirche Bet Emanuel („Haus Emanuels“), führt uns durch die berühmten elf Kirchen, die in den felsigen Boden hineingeschlagen wurden, sodass man zum Eingang über Treppen hinabsteigen muss und das Kirchendach auf Straßenhöhe liegt. Sie sind Monolithen: Boden, Säulen, Gewölbe, Altarraum – die Kirchen sind in ihrer Ganzheit aus einem Stein. Einige sind kleiner, andere beeindrucken allein schon durch ihre Größe, und alle sind sie einzigartige Kunstwerke. Ihre architektonische Schönheit ist mit keinem anderen Bauwerk zu vergleichen.
„Vor der Christianisierung waren wir Äthiopier alle Juden“, erklärt Tadesse. „Moses musste ja dem Gebot folgen, eine Gläubige zur Frau zu nehmen. Und er hat eine Äthiopierin geheiratet. Also muss es so gewesen sein.“ Das aber war längst Geschichte, als im 12. Jahrhundert König Lalibela das äthiopische Hochland regierte. Im Traum erschien ihm Gott und erteilte ihm den Auftrag, Felskirchen zu errichten. Vielleicht deswegen, weil 1189 Sultan Saladin Jerusalem eroberte und für Christen die Pilgerfahrt in die Heilige Stadt gefährlich wurde? Nicht zufällig heißt der Bach, der sich zwischen den Kirchen in den felsigen Grund eingegraben hat, Jordan.
Wie der aufwändige Bau der Kirchen – also ihr Herausschlagen aus dem Felsboden – tatsächlich ablief, ist nicht bekannt. Historiker haben kaum Antworten auf die Fragen, wie viele Menschen mitwirkten, wer sie plante, wie man die Arbeiter in der rauen Gegend überhaupt ernähren konnte. Diakon Tadesse hingegen weiß es: „Engel haben geholfen, und es hat nur 25 Jahre gedauert.“ Die älteste Kirche, wo also die Engel ihr Werk begonnen haben müssen, ist Bet Mariam. Ihr Innenraum ist 13 Meter hoch, und die Decke trägt reiche Fresken. Eine der zentralen Säulen muss, so sagen die Priester, immer verhüllt bleiben: Auf ihr seien die zehn Gebote sowie die Geschichte vom Anfang und Ende der Welt eingemeißelt. Unübersehbar gleich neben der Säule: ein Davidstern.