Ein historisches Kuriosum

Angehörige der Jüdisch-Akademischen Verbindung „Emunah“ während einer Säbelpartie in den Verbindungsräumlichkeiten in der Servitengasse 4. ©ZEEV ALEKSANDROWICZ,1925 BET HATEFUTSOT

Von Gerhard Jelinek

Tragödien kündigen sich manchmal als Posse an. Die in Brünn erscheinende Jüdische Volksstimme berichtet am 20. November 1908 über einen „Neuen Sieg der Deutschen“. Was heute zu aufgeregter Berichterstattung in allen Medien führen würde, bleibt anno 1908, dem Jahr, in dem die k.u.k. Monarchie Bosnien-Herzegowina annektiert, eine Randnotiz. Zu berichten gilt es über eine Massenschlägerei auf der Wiener Universitätsrampe, bei der sich etwa 2.000 deutschnationale Studenten mit 600 national-jüdischen Studenten eine Schlägerei liefern. Zum Einsatz kommen Stöcke, Säbel, Knüppel und andere Hiebwaffen. Die Polizei ist dabei Beobachter. Der Universitätsboden ist für sie tabu.
1908 kommt es an der Alma Mater wiederholt zu schweren Auseinandersetzungen, die zeitweise zur Schließung der Universität führen. Wiens ehrwürdige Universität wird um die Jahrhundertwende zur Versuchsstation für die Shoa. Der aus Linz zugewanderte Realschüler Adolf Hitler lebt in diesem November 1908 auf Untermiete in der Wiener Stumpergasse. Als Student schafft er es nicht auf die Akademie und ohne Matura hat er keine Chance auf einen Universitätszugang. Die sich radikalisierende Stimmung in akademischen Kreisen und der offen auftretende Antisemitismus werden sein Weltbild – vielleicht entscheidend – prägen.
Der Wiener Jus-Student Martin Freud wird Zeuge der Prügeleien auf der Uni-Rampe, bei der die Balustrade zum Einsturz gebracht wird. Freud schließt sich der jüdischen Studentenverbindung Kadimah an und erzählt davon seinem Vater Sigmund. Sigmund Freud betrachtete das Verhalten seines Sohnes mit Wohlgefallen. Er schrieb an den Schweizer Kollegen Carl Gustav Jung: „Der älteste hat sich in einer Mensur das Gesicht zerhacken lassen u. ganz tapfer dabei benommen. So wird das junge Volk allmählich selbständig und man ist plötzlich the old man!“
An den deutschsprachigen Hochschulen geben die in Burschenschaften unterschiedlichster Ausprägung organisierten Studenten den Ton an. Auch viele jüdische Studenten schlagen vor 1893 mit Säbeln Mensuren und rühmen die Kämpfe als Beweis für Tapferkeit und Mannesmut. Mit den sogenannten Waidhofener Beschlüssen trennen sich die Wege jüdischer und deutschnationaler Studenten endgültig. Der gehässige Rassenantisemitismus wird zur grundlegenden Ideologie schlagender deutschen Burschenschaften. Jeder Sohn einer jüdischen Mutter, jeder Mensch, in dessen Adern jüdisches Blut rollt, ist von Geburt an ehrlos…Man kann einen Juden nicht beleidigen, ein Jude kann daher keine Genugtuung für erlittene Beleidigung verlangen“, heißt es in den Waidhofener Beschlüssen. Sie sind nur der Endpunkt einer Entwicklung, die zum Ausschluss jüdischer Studenten aus den Burschenschaften führt.
Bereits zehn Jahre zuvor, 1883, wird in Wien die Kadimah als ältester jüdischer Studentenverein behördlich genehmigt. Auch die jüdischen Hochschüler tragen ein farbiges Band und pflegen die damaligen studentischen Rituale. Die Jüdische Akademikerverbindung bleibt nicht die einzige in Wien. Mehr als dreißig jüdische Studentenverbindungen werden gezählt. Es gibt ein „Jüdisches Vereins-Liederbuch“ mit einer hebräischen Version des „Gaudeamus“ und der Hymne auf den deutschen Kaiser: „Heil Dir im Siegerkranz“.
Einer der bedeutendsten Burschenschafter der Jahrhundertwende ist der spätere Journalist und Schriftsteller Theodor Herzl. Sein Buch „Der Judenstaat“ wird zur Grundlage des Zionismus. Als begeisterter Farbstudent muss Herzl demütigende Erfahrungen machen. Obwohl „seine“ Verbindung Albia zunächst die Umsetzung der Waidhofener Beschlüsse verweigert, radikalisiert sich die Albia wie alle anderen deutschnationalen Burschenschaften. Die Vorfälle bei einer studentischen Trauerfeier anlässlich des Todes von Richard Wagner führen schließlich zum Bruch. Das Gedenken an den verstorbenen Komponisten in den Wiener Sophiensälen wird zu einer großdeutschen Kundgebung. Einzig Hermann Bahr spricht Wagners Antisemitismus an. Es kommt zu einem Getümmel, der radikale Großdeutsche Georg Ritter von Schönerer nützt die Bühne. Die Versammlung wird schließlich gewaltsam geschlossen. Herzl stellt bei der Albia ein Austrittsgesuch, das aber unter fadenscheinigen Vorwänden abgelehnt wird. Der Feuilletonredakteur der „Neuen Freien Presse“ wird – unehrenhaft – ausgeschlossen.
Dem studentischen Brauchtum bleibt Theodor Herzl aber treu, auch einigen Mitgliedern der Albia. Herzl trägt später die Ehrenbänder der vier traditionsreichsten jüdischen Verbindungen Kadimah Wien, Ivria Wien, Unitas Wien und Libanonia Wien und wird zum Vorbild der akademisch-jüdischen Jugend. Er sieht in den Verbindungen einen Resonanzboden für seine zionistischen Ideen. Mitglieder der Brünner Veritas organisieren mit Herzl den ersten Zionistenkongress in Basel. Bei seinem Begräbnis im Jahr 1904 halten jüdische Korporierte die Totenwache.
Professor Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, erhielt 1936 zu seinem 80.Geburtstag das Ehrenband der Kadimah überreicht. Freud legte es an, bedankte sich: „Ihr Freud, der sich zu Ihren Alten Herren zu zählen wünscht“, und schrieb ein Wort ins Tagebuch: „Kadimah“. Was in der Rückschau als historisches Kuriosum erscheint, war über eine lange Zeit im 19. Jahrhundert selbstverständlich. Die frühe burschenschaftliche Bewegung, die von einer jungen radikaleren Generation an den Hochschulen getragen war, hatte großes Interesse, (deutsch-) national gesinnte Studenten aufzunehmen, auch jüdische. Der Dichter Heinrich Heine, der spätere Revolutionär und Sozialistenführer Ferdinand Lassalle und der Staatstheoretiker Friedrich Julius Stahl waren aktive Burschenschafter.
Die Massenschlägerei im November 1908 endete mit dem Einsturz der Balustrade auf der Universitätsrampe. Dass es zu keinen schweren Verletzungen kam, verdankten die akademischen Raufbolde einem Trick. Sie stopften alte Socken mit Zeitungspapier voll und steckten sie in ihre Studentenkappen. Das milderte die Stockhiebe. Gegen die, wenige Jahre später folgenden, gewaltsamen Übergriffe der nationalsozialistischen Schlägertrupps sollten solche Kniffe nicht mehr helfen.

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