Ein Film gegen das Schweigen

Sheryl Sandberg an einem der Orte, an dem die Hamas am 7. Oktober ihr grausames Massaker verübte. ©COURTESY OF KASTINA COMMUNICATIONS PHOTO BY RAN MENDELSON.

Von Gabriele Flossmann

Sheryl Sandbergs Film über die sexuelle Gewalt am 7. Oktober soll die letzten Zweifler verstummen lassen. Unter dem Titel „Screams Before Silence“ will er gegen das sich ausbreitende Schweigen über die Sexualverbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023 ankämpfen. Damals begangen die Milizen der Hamas auf Gaza Massaker an der Zivilbevölkerung. Mordend, plündernd, vergewaltigend. Die Regisseurin Anat Stalinsky hat sich engagiert der Aufgabe unterzogen, die Ereignisse vom 7. Oktober in eine bildhafte Sprache zu übersetzen. Mehr als tausend Menschen hat die Hamas bei ihrem Überfall auf Israel ermordet. Gegen Frauen wurde gezielt Gewalt ausgeübt, sie wurden gequält, gedemütigt, massenvergewaltigt. Diese Szenarien nehmen durch den Film Gestalt an und schockieren den Betrachter mit einer Brutalität, die einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Und dies obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, „Screams Before Silence“ keine Bilder der Gräueltaten zeigt. Emotional noch stärker ist es, die Gesichter der Opfer zu sehen, ihre stockenden Stimmen zu hören. Kompromisslos und erschreckend hart hat Anat Stalinsky daraus ein Szenario geschaffen, das die Tötungsszenen in einer Weise kommentiert, die in ihrer Intensität kaum zu übertreffen ist. Besonders die Ermordung – um nicht zu sagen: die Abschlachtung – von Babys und Kleinkindern schockiert und rührt zu Tränen. Erschwert wird das Anschauen dieses Films auch durch die Tatsache, dass man ganz genau weiß, dass es sich hier um keinerlei Fiktion, sondern um eine erschreckende Wahrheit handelt. Eine Wahrheit, die der menschlich gebliebene Verstand verdrängen möchte.

Der Film ist in einer Zeit, in der  antiisraelische Proteste weltweit – und auch hierzulande – eine neue Welle des Antisemitismus triggern, von besonderer Bedeutung. Er beginnt mit einem Warnhinweis an die Zuschauer. Obwohl er nur 60 Minuten dauert, ist er stellenweise so schwer zu ertragen, dass er sich – im Sinne des Wortes: quälend – in die Länge zieht. Um es gleich einmal klarzustellen: Das ist keine Kritik an diesem Film! Im Gegenteil!
Anat Stalinsky fokussiert ihre Doku auf die sexuelle Gewalt durch die Hamas. Auf die Vergewaltigung von Frauen als perfideste Form der versuchten Unterwerfung. Sie beginnt mit einer Kamerafahrt über ausgebrannte Häuser. Die Aufnahmen vom Schauplatz der Hamas-Verbrechen wirken wie das Ambiente eines Horrorthrillers. Nur dass der Horror, der hier die Handlung bestimmt, zur grauenvollen und grausamen Realität geworden ist.

Eine sichtlich emotionale Sheryl Sandberg führt durch die von der Hamas hinterlassenen Trümmer und in der Folge durch den ganzen Film. Die 1969 in Washington D.C. in eine jüdische Familie geborene Geschäftsfrau zählt zu den reichsten Frauen der Welt und engagiert sich als Vertreterin einer neuen amerikanischen Frauenbewegung. Wochenlang war Sandberg – gemeinsam mit der Filmemacherin – nach Israel gereist, um den Opfern von am 7. Oktober verübter sexueller Gewalt eine Stimme zu geben. Der Film erzählt das ganze Ausmaß der Barbarei der Hamas-Terroristen, die sich auf brutalste Weise sexuell an Frauen, Mädchen und Männern vergingen. Sandberg nimmt dabei die Rolle der Interviewerin ein, die ihren Gesprächspartnern präzise Fragen stellt. Die Frauen wirken immer noch gezeichnet von den Wunden, die das Massaker hinterlassen hat. Vor allem in ihren Seelen. Trotzdem geben sie sich bemerkenswert gefasst, als sie an den Tatort zurückkehren. Da sind die Mutter und die Tochter, die mit Sheryl Sandberg in ihr verwüstetes Haus im Kibbuz Kfar Azza zurückkehren, wo die Terroristen vor ihren Augen den Mann und Vater ermordeten. Wie schwer es für sie ist, bei ihren Erzählungen Fassung zu bewahren, merkt man, als die jüngere der beiden Frauen auf den Boden starrt und über ihren, von der Hamas ermordeten Vater spricht. „Ich habe mich nicht von ihm verabschiedet, ihn nicht umarmt oder geküsst“, erinnert sie sich leise. Und sie wiederholt auch noch ihre Worte an die Mutter: “Mama, jetzt werden sie mich vergewaltigen.“

Der Film ist durchzogen mit ähnlichen Erinnerungen von Frauen, die als Zeuginnen und Opfer der Gewalt immer noch traumatisiert sind. Sheryl Sandberg besucht in ihrer Dokumentation auch das Gelände des Nova-Musikfestivals. An ihrer Seite ist Tali Binner, die sich sichtlich überwinden muss, noch einmal den winzigen Wohnwagen zu betreten, in dem sie sich sieben Stunden lang versteckt gehalten hatte. Sie holt ein paar Mal tief Luft, bevor sie erzählen kann, was sie in ihrem Versteck mitanhören musste: Weibliche Stimmen, Hilferufe und Schmerzenslaute. Ein Mädchen fing an zu schreien: „‚Bitte hör auf, hör auf, hör auf!‘ Aber es hörte nicht auf“, erinnert sich Binner. Die beklemmende Stille, die den Schreien folgte, sei aber noch schrecklicher gewesen. Ihre Gedanken drehen sich seither im Kreis: „Was ist schlimmer? Entführt zu werden, vergewaltigt zu werden, erschossen zu werden?“ Als sich Sheryl Sandberg überrascht zeigt, dass Binner in der Lage ist, über ihre Erfahrung so offen zu sprechen, zeigt diese eine klare Haltung. Sie sehe es als ihre Pflicht an, die Erinnerung an das wachzuhalten, was den Krieg im Nahen Osten ausgelöst hat: Der Terrorüberfall der Hamas.

Eine weitere Betroffene, Amit Soussana, teilt diese Meinung. Am 7. Oktober waren Hamas-Terroristen auch in ihren Kibbuz eingedrungen, hatten sie verschleppt und – im Wortsinne – einfach mitgeschleift nach Gaza. Wie ein Stück Vieh, wie eine Trophäe. Auch sie hat das Grauen überlebt. 55 lange Tage lang war die 40-Jährige in den Fängen der Hamas – ehe sie Anfang Dezember endlich freigelassen wurde. „Vielen Frauen wurde in die Vagina geschossen,“ erzählte sie nach ihrer Freilassung. „Es sah aus, wie eine systematische genitale Verstümmelung der Opfer“. Und weiter: „Wenn ich auf die Toilette wollte, musste ich um Erlaubnis fragen und durfte dann die Tür nicht schließen. Die Wächter waren schwer bewaffnet und haben mich und die anderen Geiseln missbraucht. Ich war in einem Hamas-Tunnel 40 Meter unter der Erde gefangen, es gab kaum Sauerstoff und nur sehr wenig zu essen. In dem sargähnlichen Tunnel war es dunkel und feucht – es war, als wäre man lebendig begraben“, berichtet sie. „Wenn ich den Menschen helfen kann, die noch dort sind, dann will ich das!“ Darin sind sich alle Frauen, die im Film zu Wort kommen, einig.

Regisseurin Stalinsky schafft das Unglaubliche: die schrecklichen Bilder zeugen von viel Respekt und künstlerischer Zurückhaltung. Trotzdem sind viele der Berichte so makaber, dass man Augen und Ohren schließen will. Dazu kommen Momente, in denen die zwanghafte Selbstkontrolle der Leidtragenden ins Wanken gerät. Wenn etwa Michal Ohana, die ebenfalls das Musikfestival besuchte, in Tränen ausbricht, nachdem ein lautes Geräusch, das wie eine Rakete klingt, ihr Interview unterbricht. Shari Mendes, die in den Tagen nach dem Angriff mit der Identifizierung entstellter Leichen beauftragt wurde, beschreibt die irritierende Diskrepanz zwischen ihren Worten und ihrer Haltung: „Ich muss diszipliniert, cool und ruhig wirken“, räumt sie ein. „Ich bin es nicht. Aber wenn ich anfange, emotional zu werden, kann ich nicht mehr weitermachen.“

Sheryl Sandberg bezeichnet diesen Film als „die wichtigste Arbeit meines Lebens“. Und weiter: „Vielleicht hat alles, was ich getan habe, zu diesem Moment geführt.“ Und sie gesteht auch ein, dass sie im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die in Israel und Gaza leben und direkt betroffen sind, das Privileg hat, eine Beobachterin aus sicherer Distanz zu sein. „Alles, was wir tun können“, so Sandberg, „ist es, ihnen aus der Sicherheit und Bequemlichkeit unserer Distanz aufmerksam zuzuhören“. Wobei das „wir“ in ihrem Satz explizit auch uns, die Zuschauer dieses Films meint. Sie hofft, dass der Film auch die UNO überzeugen kann, die diese Verbrechen gegen das Menschenrecht noch immer nicht für ganz wahr halten können oder wollen. Zumindest unterließ es der UN-Generalsekretär António Guterres in dem zuletzt veröffentlichten Bericht erneut, die Hamas wegen des systematischen Begehens von Sexualverbrechen auf eine schwarze Liste von Organisationen zu setzen. Es brauche dafür „umfassendere Untersuchungen“, so die offizielle Erklärung. Und weil das vorhandene Wissen offenbar nicht genügt oder sogar geleugnet wird, wie es teilweise bei den jetzigen weltweiten Protesten gegen den Gaza-Krieg geschieht, ist „Screams Before Silence“ ein besonders wichtiger Film. Auch das Trauma des 7. Oktobers lasse sich in Hoffnung verwandeln, sagt Sandberg am Schluss des Films: Hoffnung, dass so etwas nie mehr passieren dürfe. Doch dafür muss man es zuerst einmal glauben.

Sheryl Sandberg am Gelände des NOVA Festivals. Ein Ort an dem der mehr als 400 ermordeten jungen Menschen gedacht wird. ©COURTESY OF KASTINA COMMUNICATIONS PHOTO BY RAN MENDELSON.
Die mobile Version verlassen