Inge Ginsberg hat ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. Sie erzählt von abenteuerlichen Fluchten vor den Nazis, einer gehörigen Portion Mut und Glück – und einem Leben, in dem es vor allem darum ging: Nicht aufgeben!
Von Michael Kerbler
Als Inge Ginsberg vierzehn Jahre alt war, entschloss sich ihre Großmutter, Gründerin und Präsidentin der zionistischen Frauenorganisation WIZO in Mähren, drei Farmen in Palästina zu kaufen. Man schrieb das Jahr 1936. Die Großmutter hatte – im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern – „Mein Kampf“ gelesen und sich zum Kauf der Bauernhöfe entschieden. „Gräuelmärchen“, so reagierten die männlichen Familienmitglieder auf Berichte aus Deutschland. Die Großmutter blieb hartnäckig. „Ingerle, was g’fallt dir am besten?“ Und Ingerle entschied sich für Naharia, das war eine deutsche Siedlung, und die lag am Meer. Inge Ginsberg lebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder in Wien. Das Leben schien seinen gewohnten Gang zu nehmen. Das Theaterabonnement für das Deutsche Volkstheater wurde wieder einmal verlängert, die kleine Inge auf Schulschikurs geschickt. Das hübsche Mädchen war weizenblond und blauäugig und trug – „wie immer“ – ein Dirndl und dazu gestrickte weiße Stutzen. Es war die letzte Februarwoche 1938. Ein Junge interessierte sich dort für Inge. Auch er trug weiße Stutzen. Er fragte sie, ob sie schon wisse, wo sie stehen werde, wenn der Führer einmarschiert. Ob sie schon Abzeichen, Fahne und Armbinde bekommen habe. Und ob sie die zwei Wochen wohl noch aushalten werde.
Nach Hause zurückgekehrt, erzählte die beunruhigte Inge ihrem Vater davon, der das als „Kindergeschwätz“ abtat. Und hinzufügte: „Außerdem bin ich österreichischer Offizier, meine Vorfahren leben seit 800 Jahren in Niederösterreich. Ich bin bodenständig.“
Wie viele andere Juden auch wurde Vater Ginsberg am 10. November 1938 verhaftet. Der, der ihn zum Transportsammelplatz nach Dachau brachte, war der eigene Chauffeur. Die Familie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um den Vater aus Dachau freizubekommen. Einer aber gab Inge Ginsberg einen kostenlosen Rat: Sie solle es direkt bei SSObersturmbannführer Alois Brunner, einem Mitarbeiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ versuchen. „Er kann dich erschießen oder vergewaltigen, aber vielleicht hat er gerade einen guten Tag und du rettest deinen Vater.“
„Ich bin hingegangen, natürlich bin ich hingegangen“, erzählt Inge Ginsberg im NU-Gespräch. „Das war kein Gespräch, das da stattgefunden hat. Sie können sich nicht vorstellen, wie diese Nazis mit uns umgegangen sind. Also ich hatte einen Satz auswendig gelernt, den mir der Mann, der mir geraten hatte direkt zu Brunner zu gehen und dessen Familiennamen ich bis heute nicht weiß, eingedrillt hat. Und der lautete: ,Ich bitte Sie gehorsamst um die Freilassung meines Vaters.‘ Der Brunner hatte Leute um sich, sah mich an und ich hatte den Eindruck, er wollte mich rasch loswerden. Er hat zu seinem Sekretär gesagt, geben sie ihr das. Der brachte ein Schriftstück, Brunner unterschrieb, ich bekam dieses Papier und ich habe mich bedankt. Dann war ich wieder draußen. Die ganze Angelegenheit hat vielleicht drei Minuten gedauert.“
Angst, nein Angst habe sie keine gehabt. „Ich habe in diesen Jahren meine ganze Angst in Wien ausgegeben. Ich habe keine Angst mehr. Und ich vertraue auf meine beiden Schutzengel. Es müssen zwei sein, einer allein hätte mich nicht retten können.“ Und Inge Ginsberg fügt hinzu: „Vielleicht erfährt der Mann, der mir damals den Rat gegeben hat, durch mein Buch, dass mein Vater freikam. Dafür möchte ich mich bei ihm bedanken. Auch deshalb schreibe ich meine Geschichte auf, vielleicht ist sie ja wie eine Flaschenpost und erreicht ungeahnte Ufer.“
Der Vater kam frei, weil er versprochen hatte, innerhalb weniger Tage auszuwandern. Doch die Reise in die Freiheit wurde zum Albtraum. Die „St. Louis“ durfte mit 900 Passagieren nicht auf Kuba landen, auch die USA verweigerten den Verzweifelten, amerikanische Häfen anzusteuern. Schließlich zurück in europäischen Gewässern, zerstörte der Kapitän die Motoren, um die jüdischen Flüchtlinge zu retten. England, Frankreich, Holland und Belgien nahmen die Gestrandeten auf. Vater Ginsberg schaffte es nach England. Es sollte Jahre dauern, bis er seine Inge wiedersehen konnte.
Inge Ginsberg ging in das erste jüdische Gymnasium in Wien, das Chajes-Gymnasium. Freunde von ihr hatten eine illegale Jugendgruppe gegründet, die Anti-Nazi-Flugblätter druckten, Spottlieder verbreiteten und Anti-Nazi-Witze streuten. Die Deutschen waren „Mogsiekaner“ (es mag sie keiner) und „Hakinger“. Als plötzlich Gestapobeamte auftauchten und die jungen Burschen getrennt verhörten, begriffen alle, dass die Situation lebensgefährlich geworden war. Vater Ginsberg bemühte sich verzweifelt um die Einreisegenehmigung für seine Familie. Als er endlich die Papiere beisammenhatte, brach der Krieg aus – und alle Kommunikationswege nach Wien waren abgeschnitten.
Die Jahre des Krieges und der Verfolgung in Wien beschreibt Inge Ginsberg manchmal mit einer gehörigen Portion bitterem Humor. Zuerst der Verlust der eigenen Wohnung. Die Odyssee durch verschiedene Wohnungen, in denen immer mehr Menschen auf engstem Raum zusammengedrängt existieren mussten. Schließlich die letzte Bleibe im Ghetto in der Sterngasse. Und dann kam die Zeit der Illegalität, in der die drei – Inge, ihre Mutter und ihr Bruder – abtauchten, um der Deportation zu entgehen.
Inge Ginsberg kaschierte den Judenstern, wenn sie sich in ihren Lieblingspark am Donaukanal setzte – was für Juden verboten war. Die Situation erschien ihr hoffnungslos. Der Judenrat hatte vielen jüdischen Mädchen, darunter Inge Ginsberg, angeraten, einen Musikkurs aufzugeben. Die Gefahr einer Razzia sei zu groß geworden. Das alles ging Inge Ginsberg durch den Kopf, während sie auf der Parkbank saß. Vielleicht wäre es doch besser sich zu ergeben und ins Gefängnis zu gehen. Dort gebe es eine Schlafmöglichkeit und Brot. Sie wollte nicht mehr so müde sein. Da fiel ein Schatten auf sie. Ein älterer Mann schenkte ihr eine Rose und sagte dabei: „Nicht aufgeben, Kinderl! Morgen schon kann alles besser sein, nur nie aufgeben.“
„Ja“, nickt Inge Ginsberg, „das ist mein Lebensmotto geworden. ‚Nur net aufgeben.‘ Mein Bruder hat einmal gesagt, du kämpfst um verlorenen Boden. Aber das ist nicht richtig. Nur wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Schließlich sollte die Spinnerei, in der sie nachts mit vielen Mädchen zwangsverpflichtet arbeitete, geschlossen werden. Der Besitzer rief sie ins Büro, doch verließ er, als sie den Raum betrat, das Zimmer mit den Worten: „Schau genau hin.“ Inge Ginsberg fand gefälschte Papiere für ihre Familie für eine Flucht in die Schweiz. Rechtzeitig. Denn wenige Tage später sollte sich die Familie zur Deportation melden. „Wissen Sie, es gab damals ein riesiges Anti-Nazi-Netz. Leute, die geholfen haben. Die uns mit Essen versorgt haben über vier Jahre. Wo wir schlafen konnten. Die uns gewarnt haben. Ich glaube, es gab damals nix Graues. Nur Schwarz und Weiß. Meine Heimat, das sind meine Freunde. Das habe ich damals gelernt – und das ist bis heute so geblieben. Was mich am meisten schmerzt nach den vielen Jahren, das ist der Verlust meiner Muttersprache. Wie soll ich es sagen? Die Sprache hat sich von mir entfernt, ich bin stehen geblieben.“
Sie tauchten unter: mit Hilfe einer Untergrundorganisation, die Menschen versteckte – jeden Tag in einer anderen Wohnung. Die Flucht aus Wien gelang. Über München ging die Bahnfahrt, jeder in einem anderen Waggon, nach St. Gallenkirch, hart an der eidgenössischen Grenze. Drei Tage später, wegen einer anonymen Anzeige, hieß es mitten in der Nacht auf und davon. Sie schafften die Flucht übers Geröll, über die Grenze und wurden am 23. Oktober 1942 von einem Schweizer Polizisten, der sie von der Grenze bis nach Chur gelotst hatte, festgenommen. Sie waren in Sicherheit.
Auch die nachfolgenden Monate bis zum Kriegsende behielten ihre Dramatik, wenngleich niemals Lebensgefahr bestand. Inge Ginsberg wurde von einem Freund als „Haushälterin“ für die Villa Westphal engagiert. Sie konnte mit Einwilligung der schweizerischen Behörden das Flüchtlingslager verlassen. Die besagte Villa in Lugano entpuppte sich als Geheimdienstquartier der OSS, des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes. Die Villa ging in die Geschichte ein, denn am 29. April 1945 wurde dort die einzige deutsche Teilkapitulation vor dem endgültigen Kriegsende besiegelt. Genua blieb verschont, ebenso die in die Alpenfestung ausgelagerten Kunstschätze von Florenz.
Nach Kriegsende begann Inge Ginsberg mit ihrem ersten Mann Liedtexte zu seinen Kompositionen zu schreiben: für Doris Day, Dean Martin und Vico Torriani. Heute lebt Inge Ginsberg in Israel, den USA, in der Schweiz und sie reist oft nach Lateinamerika. Manchmal, nur manchmal besucht sie Wien.
„Die Partisanenvilla – Erinnerungen an Flucht, Geheimdienst und zahlreiche Schlager.“ Das Buch ist in der Reihe „dtv-premium“ des Deutschen Taschenbuch Verlages, München, erschienen.
ISBN 978-3423246804